Der stete Widerspruch sorgt für die Attraktion des Tatorts bis heute

Gastbeitrag von Dietrich Leder, Medienwissenschaftler und Publizist, Professor an der Kunsthochschule Köln

Prof. Karl-Friedrich Boerne und Hauptkommissar Frank Thiel
Prof. Karl-Friedrich Boerne macht es anschaulich: Er erklärt Hauptkommissar Frank Thiel einen möglichen Tathergang. | Bild: ARD / Michael Böhme

»Der 'Tatort' ist gegenwärtig auf der Höhe seiner Popularität. Dafür sprechen Indizien: Der Termin am Sonntagabend um 20:15 Uhr ist einer der letzten, der fest mit einer Fernsehsendung identifiziert wird. Wenn der traditionelle Vorspann läuft und die Titelmusik von Klaus Doldinger erklingt, ruft man niemanden mehr an, es sei denn, man will ihn ärgern. Stattdessen versammeln sich Familien und Bekannte vor dem Fernsehschirm, was sonst nur noch sportlichen Großereignissen vorbehalten ist. In der Hitliste der erfolgreichsten Fernsehsendungen eines jeden Jahres stehen neben einigen Fußballspielen vor allem Folgen des 'Tatorts'. Und er bildet ein Repertoire, das wie keine andere Fernsehsendung immer wieder erfolgreich wiederholt wird.

Zugleich wird über ihn permanent kommuniziert. Schon im Vorhinein, wenn Zu- und Abgänge von Schauspielern als Sensationen vermeldet und bereits die Dreharbeiten in den jeweiligen Städten zu Ereignissen werden. Das geht weiter während der Ausstrahlung, bei der keine erzählerische Wendung via Twitter unkommentiert bleibt. Mitunter fordert die Twitter-Kommunikation ihre Autoren so sehr, dass sie eine verzwickte Handlung oder komplizierte Dialoge nicht verstehen, was sie prompt bitter in Tweets beklagen. Und das endet nicht nach der Ausstrahlung, wenn die ersten Kritiken online auf den Seiten der Tages- und Wochenzeitungen erscheinen, die sonst keine Fernsehkritiken mehr kennen.

Populär war der 'Tatort' immer schon. Tatsächlich waren ja die Zuschauerzahlen in den ersten 20 Jahren sogar deutlich größer als in der Gegenwart. Damals erreichte eine erfolgreiche Folge über 25 Millionen Zuschauer der alten Bundesrepublik. Selbstverständlich war dieser hohe Zuspruch, dem eine Quote von über 75 Prozent aller Zuschauer entsprach, der Tatsache geschuldet, dass es neben dem ZDF nur die Dritten Programme als Konkurrenten gab. Heute muss er sich gegen 300 und mehr Programme durchsetzen. Aber in den ersten Jahren galt der 'Tatort' als triviale Unterhaltung, der man zwar gerne frönte, aber über die man kaum sprach und die man noch seltener rühmte. So wurde er denn viele Jahre beim Grimme-Preis übergangen. Heute sind seine Folgen dort selbstverständliche Bestandteile im Wettbewerb der Fernsehfilme, so wie die Gesellschaft alltäglich über ihn kommuniziert.

Dass der 'Tatort' quicklebendig ist, verdankt er seiner widersprüchlichen Konstruktion. Er ist eine Reihe, die zu festen Zeiten stets dasselbe, nämlich Polizeigeschichten, anbietet, deren Einzelfolgen aber für sich allein bestehen und sich zudem über die Länge des klassischen Spielfilms erstrecken. Seine Hauptfiguren wechseln sich ab, doch kein Zuschauer könnte sagen, in welchem Rhythmus sie auftauchen. Dem Genre des Polizeifilms sind alle Filme verpflichtet, doch innerhalb dessen ist alles möglich – bis zur Parodie und Preisgabe des Genres selbst. Kurz: Dieser stete Widerspruch aus Kontinuität und Bruch, aus Genretreue und -variation, aus der Formatierung des Ganzen und der Individualität des einzelnen Films sorgt für die Attraktion des 'Tatorts' bis heute.

Geholfen hat ihm dabei sein föderales Grundprinzip, dass die Landesrundfunkanstalten die Polizeiarbeit jeweils in Städten ihres Sendegebiets ansiedeln. Diese Ursprungsidee seines Erfinders Gunther Witte fächert seither die Bundesrepublik in viele nicht nur topografische, sondern auch sprachliche und soziale Facetten auf, die man im Rückblick in ihrer Vielfalt nur bestaunen kann. Gegenwärtig kartographieren die Folgen des BR mit dem Duo Batic (Miroslav Nemec) und Leitmayr (Udo Wachtveitl) die Randgebiete der bayerischen Landeshauptstadt als soziale Räume und Flächen.

Der von Witte in seinem Konzept verordnete Realismus erzeugte zudem eine Art filmisches Museum all dessen, was die jeweilige Produktionszeit an Moden in der Kleidung, in den Frisuren, in der Architektur bis zur Möblierung der Wohnungen hervorbrachte. Genauso halten die Einzelfilme, rückwirkend betrachtet, fest, was in der bundesdeutschen Gesellschaft jeweils als normal galt. Um nur ein Beispiel zu nennen: In den ersten Jahren war der Ehebruch noch eines der zentralen Motive für Morde, da er die Institution der Ehe bedrohte. Heute, da die Ehe nicht mehr als heilig gilt, sondern eher als eine Durchgangsstufe des Sozialen erscheint, ist ein solches Motiv selten. Fällt so etwas erst in der Detailanalyse auf, registriert man andere Veränderungen auf den ersten Blick, wenn man alte Folgen bei einer ihrer vielen Wiederholungen wiedersieht: Noch in den 1980er Jahren wurde während des Dienstes so viel geraucht, dass die Luft in der Verhörräumen oft zum Schneiden war.

Der Literaturwissenschaftler Jochen Vogt hat deshalb den 'Tatort' als den 'wahren deutschen Gesellschaftsroman' bezeichnet. Tatsächlich kann man anhand der tausend Folgen durchaus die Geschichte der bundesrepublikanischen Gesellschaft nachzeichnen. Das Bild, das da entsteht, ist allerdings eines, das eine bestimmte bildungsbürgerlich geprägte, politisch sich eher links verstehende Mittelschicht zeichnet. Erst wenn dort bestimmte Themen, die schon länger schwären wie Umweltverschmutzung, Kindesmisshandlung, Ausländerdiskriminierung, angekommen sind, tauchen sie als Stoff im 'Tatort' auf. Umgekehrt hat der TATORT manches Tabu mit dieser Schicht gemeinsam wie etwa das der Gewalt, die von den Terroristen der RAF in den 1970er Jahren ausging. Sie kam nie vor, obwohl doch mancher der Drehbuchautoren davon etwas hätte erzählen können.

Noch in der Veränderung der filmischen Formen paust sich etwas von dem durch, was sich in der Gesellschaft selbst änderte. Die frühen Folgen, deren Spannung aus dem Rätsel, wer denn der Täter sei, entsprang, lebten vom durchaus bühnenwirksamen Dialog zwischen den Ermittlern und den Verdächtigen. In den besten Szenen entstanden so ungemein dichte Momente, die vom Sprachwitz der Drehbuchautoren wie von der Artikulationsfähigkeit der Schauspieler lebten. Zugleich traten die Lösungen der Fälle sprachlich zu Tage – als Erkenntnisse, die mitgeteilt wurden, oder als Versprecher, mit denen sich Täter verrieten. Actionszenen wie Verfolgungsjagden oder Schusswechsel sahen damals in der Inszenierung und in der Bildgestaltung eher bemüht aus, wie es der Maske nur selten gelang, schwere Wunden oder starke Blutungen realistisch erscheinen zu lassen. Die Gewalt und ihre sichtbaren Folgen wurden deshalb meist ausgespart.

Heute ist das anders. Die Gewalt ist ein ästhetisches Zeichen, das man wie jedes andere einsetzt. Sie steht nicht mehr nur am Anfang der Erzählung, sondern grundiert sie gleichsam. Begonnen hat das 1981 mit dem Auftritt von Horst Schimanski (Götz George) in 'Duisburg Ruhrort' (WDR). Er war in allen Szenen stets körperlich präsent bis zur lächerlichen Selbstentblößung, während er sich in Sprache kaum differenziert ausdrücken konnte. Er löste seine Fälle nicht durch Reflexion, sondern durch körperliche Aktion. Die Ermittlung war bei ihm kein Sprachspiel, sondern handfeste und also auch gewalttätige Auseinandersetzung. Gewalt war nicht mehr nur das andere, das es zu bekämpfen galt; sie lauerte auch in denen, die gegen sie angehen.

Hajo Gies, der den ersten 'Tatort' von Schimanski inszenierte, war vom amerikanischen Kino und von Polizeifilmen eines Don Siegel begeistert. Das sah man seinen Filmen an, in denen die Actionszenen wie selbstverständlich und nicht als Selbstzweck erschienen. In den folgenden Jahren bildeten andere aktuelle Kinofilme die Vorbilder für nachwachsende Regisseure, als sie etwa analog zu den Gangsterfilmen eines Michael Mann die Gegenspieler der Ermittler in den Vordergrund rückten oder als sie geradezu lustvoll die spielerische Gewaltdarstellung eines Quentin Tarantino übernahmen. Auch dass der Thriller Einzug in die Reihe hielt, hängt mit der Attraktion von Kinovorbildern zusammen. Den Zufall beispielsweise, der im Jubiläums-'Tatort' von Alexander Adolph, 'Taxi nach Leipzig' (NDR), die einander bislang unbekannten Kommissare Lindholm (Maria Furtwängler) und Borowski (Axel Milberg) in dasselbe Fahrzeug zwängt, in dem sie eine schreckliche Nacht auch ihrer Erinnerungen und Phobien erleiden, hatte einst Alfred Hitchcock zu einem Spannung stimulierenden Prinzip erhoben.

Aktuell schimmert in den selbstreflektorischen Spielen, wie sie vor allem die Filme mit Ulrich Tukur als Felix Murot (HR) betreiben, das postmoderne Kino der Coen-Brüder oder eines Charlie Kaufman ('Adaption') durch, wenn etwa in 'Im Schmerz geboren' das Spiel mit dem Genre und mit dem Tod ins Extrem getrieben wird oder in 'Wer bin ich' (HR) sich die Tat und die Erzählung ihrer Ermittlung in einer Art von Möbiusband derart ineinander verdrehen, dass am Ende der Ermittler im Darsteller seiner selbst den Täter erkennen muss. Erzählerische Ironie ist allerdings keine neue Errungenschaft im 'Tatort'. Schon sein erster ungewöhnlicher Held, der Zollfahnder Kressin (Sieghard Rupp), war weniger eine realistische Figur denn eine Persiflage auf den omnipotenten Geheimagenten James Bond, der einige Jahre zuvor seine Kinokarriere begonnen hatte.

Im ersten Jahrzehnt ermittelten einsame Helden. Diesen meist wortkargen Männern kamen höchstens ihre Assistenten nahe. In den 1980er-Jahren kam es zu den berühmten Männerpaaren wie das für den NDR in Hamburg tätige Duo der Kommissare Stoever (Manfred Krug) und Brockmöller (Charles Brauer), deren Charaktere gegensätzlich gepolt waren und so für Komik sorgten. Etwas, was der Münsteraner 'Tatort' um Thiel (Axel Prahl) und Boerne (Jan Josef Liefers) äußerst erfolgreich zum Prinzip erhoben hat. Ende der 1970er-Jahre trat dann mit Marianne Buchmüller (Nicole Heesters) die erste Kommissarin auf den Plan. Spätestens seit Lena Odenthal (Ulrike Folkerts), die von 1989 bis heute als nun dienstälteste Ermittlerin für den SWR tätig ist, sind Frauen als Protagonistinnen etabliert.

Mit den Kommissarinnen Lürsen (Sabine Postel) oder Lindholm (Maria Furtwängler) und weiteren Kolleginnen sind fast genauso viele Frauen wie Männer als Kommissare vor den Kameras aktiv.

Parallel dazu wurde die Arbeit personell weiter aufgefächert; so kamen Spezialisten etwa aus der Pathologie oder der Computerrecherche hinzu. Im 'Tatort' aus Dortmund ermittelt zum ersten Mal ein Team aus vier Personen halbwegs gleichberechtigt. Wenn man so will, eine berufliche Patchwork- Familie. Ihre Personen weisen anders als die frühen 'Tatort'-Ermittler ein meist problematisches Privatleben auf, das oft genug die Handlung und mitunter wie beim erwähnten Kommissar Murot sogar die filmische Wahrnehmung bestimmt.

Aber es sind nicht die persönlichen Seitengeschichten, die visuellen und erzählerischen Eskapaden, die Anleihen bei anderen Genres wie der Komödie oder gar dem Horror-Film, die das Zentrum des 'Tatorts' bilden. Das ist und bleibt die erzählerische Konvention, dass in den 90 Minuten der filmischen Erzählung das meist schreckliche Verbrechen aufgeklärt wird und also am Ende so etwa jene Normalität wieder einzieht, die durch die Tat aus den Fugen geriet. Man kann das als eine Art von Versöhnung mit einer prekären Gegenwart bezeichnen, deren Vorgänge sich nicht immer so leicht auf- und erklären lassen. Die allerbesten Filme der Reihe 'Tatort' – dieses persönliche Urteil sei gestattet – deuten allerdings an, dass diese Versöhnung eine Selbsttäuschung ist.«

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