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Estland: Die Trauer der Russen

PlayDrei ältere Frauen sitzen auf einer Bank.
Estland: Die Trauer der Russen | Bild: NDR

Hinter dem Zaun verrotten die alten Industriegebäude. Dabei haben in der Kreenholm Fabrik einst mehr als 10.000 Menschen gearbeitet. Lena Kase zieht es immer wieder hierher: “Und dann ist eine ganze Gruppe Arbeiter in Richtung Fabrik gelaufen. Von dort kamen Leute. Und von hier, da hin.”  Schon mit 15-Jahren fängt Lena in der Textil-Fabrik an. Erst als Weberin, später als Putzkraft.  “Das war eine dreckige Arbeit. Aber wie meine Mutter sagte: Naja, weil du nicht lernen wolltest, das hast du nun davon.”

1940 besetzen die Sowjets Estland, vier Jahre später gehört das Land zur Sowjetunion. Aus der ganzen UdSSR kommen Arbeiterinnen und Arbeiter nach Narwa, auch die Familien von Tamara, Lena und Elsa. Für sie bedeutet diese Zeit vor allem eines: Sicherheit. "Du wusstest, morgen hast du Arbeit, ein Dach über dem Kopf, bleibst nicht hungrig. Niemand nimmt dir deine Wohnung weg", sagt Lena Kase. Die Frauen erzählen, dass ihre Kinder und Enkelkinder weggezogen sind. Von der estnischen Regierung im fernen Tallinn fühlen sie sich nicht verstanden. "Plötzlich war man in Estland der Meinung, dass Russisch zu sein eine Schande ist. Niemals glaube ich, dass Russischsein eine Schande ist. Sie vergessen, wenn man uns schlägt, werden wir nur stärker", meint Elsa Schlümmer.

Narwa: 95 Prozent der Bevölkerung spricht Russisch

Nur der Fluss Narva trennt die Europäische Union von Russland.  Knapp 53.000  Menschen leben hier, 95 Prozent sprechen überwiegend Russisch. Fließend Estnisch können nur wenige. Die Hermannsfeste auf der estnischen Seite ist heute ein Museum. Die Leiterin Maria Smorževski-Smirnova möchte die Bevölkerung aufklären: Über die ganze Geschichte der Stadt mit ihrer Besatzung und den sowjetischen Deportationen: "Natürlich arbeitet die russische Propaganda sehr aktiv hier in Narwa. Dieser Mythos darüber, dass die Stadt hier befreit wurde… Man muss sich irgendwie mit einer anderen Geschichte anfreunden."

Für ihre Arbeit erntet sie auch viel Kritik.  Eine Aktion um eine Lenin-Statue sorgte für besonders viel Aufregung: "Hier, da hinten stand der Lenin", sagt Maria Smorževskihh-Smirnova. "Im Dezember 2022 haben wir den Lenin hier rausgefahren. Das hat bei den Bewohnern von Narwa für einen Aufschrei gesorgt. Sie trauerten sehr, dass der Lenin nun wegfährt."

Russisches Angriffskrieg: Ton gegenüber Russischsprachigen verschärft

Bücher und eine Figur in einer Tracht auf einem Tisch.
Aus der ganzen UdSSR kamen Arbeiterinnen und Arbeiter mit ihren Traditionen nach Narwa. | Bild: NDR

Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich der Ton gegenüber den Russischsprachigen verschärft. Trotzdem empfinden viele hier weiterhin große Verbundenheit zu Russland, so auch Maria Smorževskihh-Smirnova: "Ich liebe auch weiterhin Russland, wegen der russischen Kultur, familiärer Verbindungen... Viele Menschen hier haben Verwandte auf der anderen Seite. Es ist schwierig, diese Beziehung einfach zu zerreißen. Aber was man machen kann: Eine Position beziehen!" Eine Position, die auch kritisch auf Russland guckt.

Im Haus der Völker treffen sich die nationalen Minderheiten, die in Narwa leben. Rafael Sharafetdinov leitet das Kulturzentrum seit einem Monat.  Auch hier sprechen und singen sie auf Russisch. Die Gruppe der Tschuwaschen übt für einen Auftritt.  Sie sind vor Jahrzehnten aus Zentralrussland für die Arbeit nach Narwa gekommen. Rafael selbst stammt aus Narwa, hat tatarische Wurzeln. Viele Jahre hat er in anderen Städten gelebt, für seine Familie kam er wieder zurück: "Ein großes Problem ist die Arbeitslosigkeit, die Jugend zieht aus der Stadt weg, es gibt nicht genug sozialen Wohnraum für die ältere Bevölkerung…"  Und jetzt gebe es auch noch politischen Druck Estnisch zu lernen, sagt er. Das sei viel zu lange versäumt worden.  "Erst jetzt haben wir hier estnische Kindergärten. Warum konnte man das nicht schon zu meiner Kindheit? Ich bin 1978 geboren. Als die Unabhängigkeit kam, da hätte man daran denken müssen uns dazu zu bringen, estnisch zu lernen. Aber ich hatte damals gerade mal zwei Schulstunden estnisch in der Schule, also worüber reden wir hier?"

Schulunterricht soll im ganzen Land schrittweise auf Estnisch umgestellt werden

In der Schule von Aljona Kordontschuk findet der Unterricht schon jetzt auf Estnisch statt – eine der wenigen Ausnahmen in der Stadt. Ab dem 1. August soll der Unterricht im ganzen Land schrittweise auf Estnisch umgestellt werden. Sie begrüßt das. "Wenn wir in Narva so tun, als lebten wir in einer eigenen Welt, in der wir abgetrennt sind von dem Rest des Landes, dann ist das nicht gut. Es gibt Menschen, die verstehen müssen, dass Narwa ein Teil von Estland ist. Sie sind dafür offen, aber sie müssen das noch richtig begreifen." Alleine in Narwa droht etwa 150 Lehrkräften die Kündigung, weil sie die Sprachanforderungen nicht erfüllen.

Um die Schülerinnen und Schüler in der Stadt macht sich die Schulleiterin keine großen Sorgen: "Es ist gut, dass unsere Kinder sich noch sicherer fühlen werden, wenn sie an die Unis kommen. Viele Schulabgänger gehen momentan ins Ausland. Nicht weil sie so reich oder ambitioniert sind, sondern weil sie kein Estnisch können bis zur zwölften Klasse."

An der Kreenholm-Fabrik denken sie an alte Zeiten. Tamara zeigt Lena und Elsa stolz Stoffe, die sie vor über 30 Jahren hier in Narwa gestaltet hat. Als Textildesignerin. Die drei schwelgen gerne in Erinnerungen. An ein Leben, das für sie einfacher schien. 

Autorinnen: Jelena Morgenstern/Margareta Kosmol

Stand: 28.04.2024 19:42 Uhr

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