So., 25.06.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
China: Senioren-Hipster – Internethype um die Ältesten
So kann ein Senioren-Alltag in Peking aussehen. Zumindest für diese Damen. Schwiegertochter He managt die Livestreams. Es werden Kleider, Beauty-Produkte beworben. Heute mal ein Buch. Die Vier sind zwischen 68 und 77 Jahren alt. Auf dem Handy daddeln ist nun eigentlich nicht so ihr Ding, aber die User-Meinungen interessieren dann schon. "Das war der beste Kommentar: Ich möchte jetzt schon so alt sein wie ihr. Dann hätte ich auch so ein Leben", sagt Lin Wie und Sun Yang fügt hinzu: "Einer sagt, du bist zu dünn, das sieht nicht gut aus. Das ignorieren wir mal schön."
Lin Wei, 68 Jahre, arbeitete als Krankenschwester. Das Rentenalter für Frauen in China liegt bei 55 Jahren. Kennengelernt haben sich die vier aus der eher gehobenen Mittelschicht auf einer Abendschule für ältere Models. Heute sind auch Hardcore-Fans da, das Schuhwerk à la "Beijing Glammas".
Sichtbarkeit für die alternde Bevölkerung
Allein beim chinesischen TikTok haben sie mehr als zwei Millionen Follower:innen, im Schnitt 50 Jahre alt. Quartetts gibt es mehrere im digitalen China. Alles reiner Lifestyle, Politisches würde zensiert. Er ist 86 Jahre, hat sechs Millionen Follower:innen. Für den ehemaligen Professor ist das Leben nun ein Karneval. China ist eine zunehmend alternde Gesellschaft, jeder Fünfte ist über 60 Jahre. Was eben im richtigen Leben stattfindet, wird mitunter in den sozialen Medien humorvoll überspitzt. Auch diese tanzfreudigen Seniorinnen auf dem Land haben wir besucht.
In diesem 3600-Seelen-Dorf. 700 Kilometer südlich von Peking. Viele Junge sind weggezogen. Die Karawane zieht ein. Beinah jeden Tag, an diesem Ort treffen sie sich. Beim 28-jährigen Mingle. Er wohnt hier und ist so eine Art privater Altenpfleger. Sein Zuhause ist sozusagen das Dorf-Café. Wichtigen Tratsch gibt es hier. Und was auch immer sie machen, tanzen oder backen – Mingle stellt vieles Online. Tänzerin Wang Ruizhi möchte schon wieder loslegen. Sie ist 85 Jahre alt, hat Hüftprobleme und die kann sie bei Mingle einfach mal vergessen. Das Tanzen, so sagt sie uns, tue ihr gut. Viele hier leben allein zuhause. Mingle startete vor drei Jahren die Senioren-Treffen. Kurz zuvor war seine Mutter plötzlich gestorben. "Alles in meinem Leben ist bedeutungslos geworden und ich wollte einfach etwas für meine verstorbene Mutter machen", erzählt Wang Mingle, "ich habe so viel Kummer und diese Aufgabe hier hilft mir, ihn zu überwinden." Sie nennen ihn hier liebevoll "unseren Geschäftsführer".
Und so sieht das Leben von Wang Ruizhe aus. Sie und ihr Mann sind Bauern. Sie haben wenig zu leben. Ihr Alltag ist recht übersichtlich. Neue Zähne, für sie unvorstellbar. "Ich kann kauen und beißen. Meine Tochter hat mir Geld gegeben, aber ich will das nicht. Ich bin zu alt, es bleiben mir nicht viele Jahre. Das braucht’s nicht", sagt sie.
Gemeinschaft – online und offline
Wir wollten noch in einem anderen Dorf Internetstars treffen. Doch bei unseren Recherchen selbst zu diesem eher leichten Thema sind Interviewpartner:innen von den Behörden unter Druck gesetzt worden. Zurück in Peking, in der privilegierten Lebensrealität der Beijing Glammas. Das ist kein Problem für die Zensurbehörden, alles sehr vorzeigbar. Das Abendessen der Vier bei Suns Sohn zuhause wird live gestreamt. "Junge Menschen denken, alte Damen sind zu nichts mehr zu gebrauchen. Sie denken, wir gehören nicht mehr zur Gesellschaft", sagt Sun Yang. "Doch, wir können noch was von Wert machen", ergänzt Lin Wie.
Fladenbrotbacken auf dem Land. Hier geht es nicht um Lebensoptimierung, sondern Lebensbasis. Das Zusammensein, die Ablenkung vom sonst öden Alltag. "Hier können wir gemeinsam plaudern und ein bisschen was arbeiten. So geht der Tag schneller rum", erzählt Cao Zhengyun. Viele von ihnen nutzen das Handy nur zum Telefonieren. TikTok interessiert sie nicht. Aber darum geht es für sie auch nicht. Es ist die Gemeinschaft im echten Leben.
Autorin: Marie von Mallinckrodt / ARD Peking
Stand: 25.06.2023 22:22 Uhr
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