So., 13.03.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Finnland: Russen reisen aus
Abend für Abend das gleiche Bild. Seit Tagen ist die Strecke St. Petersburg – Helsinki ausgebucht. Fast alle hier wollen eins: Weg aus Russland! Die Reise nach Finnland ist oft nur der Anfang. Ihre Heimat lassen sie erst einmal zurück. Weil sie zu Hause nicht mehr das sagen dürfen, was sie wirklich denken.
Die Angst vor Putins Regime
"Es wird immer schlimmer. Dieser ganze Mist mit diesem Krieg, der von diesem verrückten Idioten Putin angezettelt wurde. Viele Russen sind am Boden zerstört. Wir wollen nicht zurück in die Zeiten der Sowjetunion." Wir treffen Anastasia, die weiter nach Polen möchte. Ihren vollen Namen will sie lieber nicht sagen. Kaum angekommen, ist die Angst immer noch groß: "Schon ein Solidaritäts-Aufkleber auf dem Rucksack ist Grund genug, von der Polizei gestoppt zu werden oder sogar ins Gefängnis zu kommen. Wir haben nicht die geringste Chance, unsere Meinung zu sagen."
Wer weg will, kommt nicht nur nach Helsinki. Die Grenze zwischen Russland und Finnland ist über 1.300 Kilometer lang. Wer am Posten Nujamaa in die EU will, braucht einen Grund. Viele geben an, ihre Familie auf der anderen Seite der Grenze zu besuchen oder haben ein Ferienhaus in Finnland. Auch hier erzählen sie uns von der Flucht Richtung Westen. "Es gibt Leute, die gehen, weil es gerade so instabil ist. Niemand kann gerade sagen, wie es in Russland weitergeht", sagt Anastasia.
Ein Neuanfang für Russ:innen
Unweit der Grenze liegt Lappeenranta. Schon immer ein Touristen-Ort für Russland. Und manche haben sich hier ein neues Leben aufgebaut. Nadja Belonogova ist vor einigen Jahren aus Moskau hierhergezogen. Dann lernte sie ihren finnischen Mann an der Uni kennen und blieb. Ihre Kinder wachsen zweisprachig auf. Nadja ist es wichtig, dass sie Russisch können. Fast jeden Tag telefoniert sie mit ihrer Mutter in Moskau. "Es hat sich radikal verändert, als sie die unabhängigen Nachrichtensender in Russland dicht gemacht haben. Alles wurde zensiert. Was man sagen darf und was nicht. Und das hat meiner Mutter große Angst gemacht, offen zu sprechen", erzählt sie.
Die Kinder gehen auf eine finnisch-russische Schule. Wer russische Wurzeln hat und wer nicht, war immer egal. Doch jetzt sorgt sich Nadja, dass der Krieg in der Ukraine das ändern könnte. An der Uni tauscht sie sich darüber mit Freunden aus. Sie hier kommen alle aus Russland und helfen Geflüchteten aus der Ukraine. Selbst das, fürchten sie, könnte Folgen haben. "Da ist immer so eine Bedrohung hinter einem. Was könnten die Konsequenzen sein? Nicht unbedingt für mich, aber vielleicht für meine Verwandten auf der anderen Seite der Grenze", sagt Nadja.
Zurück in Helsinki treffen wir noch ein einmal Anastasia. Ihr Mann Adam lebt in Polen und will sie nun zu sich holen. Vor ein paar Tagen hat sie in Moskau noch demonstriert, erzählt sie uns, bis sie eingeschüchtert wurde. "Bisher kannte ich niemanden, der das Putin-Regime unterstützt. Und plötzlich sind sie da. Die Polizei und die Nationalgarde wollen die Opposition unterdrücken. Und selbst Teile der Bevölkerung unterstützen das. Das war eine erschreckende Erfahrung", erzählt sie. Das war der Moment, als sie anfing, die Koffer zu packen, sagt sie. Anastasia hofft auf eine Rückkehr. Irgendwann. Doch wann das sein wird, weiß sie nicht.
Autor: Christian Blenker / ARD Studio Stockholm
Stand: 14.03.2022 16:34 Uhr
Kommentare