Mo., 30.10.23 | 00:20 Uhr
Daniel Kehlmann: "Lichtspiel"
Schon sein Roman "Vermessung der Welt" aus dem Jahr 2005 über die gemeinsame Reise des mathematischen Genies Carl Friedrich Gauß mit dem Naturforscher Alexander von Humboldt war allerhöchste Unterhaltungskunst auf hohem literarischem Niveau und ein absoluter Welterfolg. Mit dem 2017 erschienen Roman "Tyll", der sich am historischen Till Eulenspiegel in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges orientiert, schuf Daniel Kehlmann bereits ein Meisterwerk. Und nun, es kann nicht anders gesagt werden, hat Kehlmann mit "Lichtspiel" sich tatsächlich noch einmal selbst übertroffen.
Wir erleben, ja, tatsächlich, wir sind mitten drin und erleben: zum Beispiel, wie das Bergfilmdrama "Die weiße Hölle vom Piz Palü" von Arnold Fanck und Georg Wilhelm Pabst gemeinsam gedreht wird. Hier und später bei ihrem eigenen Film "Tiefland" ist es vor allem die Zeichnung der schrecklich unbegabten aber von Hitler protegierten Leni Riefenstahl als schrille und dominant grausame Person, die lang im Kopf bleibt. Daniel Kehlmann versteht es auf wirklich ganz ausgezeichnete Weise, Menschen, Gesichter, auch Filme ganz plastisch zum Leben zu erwecken. Er kriecht in die Menschen hinein und erzählt aus ihnen heraus. So wird "Lichtspiel" zu einem funkelnden Kaleidoskop der Stimmen und Sichtweisen, aber ganz natürlich bleibt das Buch spannend und unterhaltsam bei höchstem literarischen Können. Bis hinein in die Nebenfiguren. Wie beispielsweise G.W. Pabsts Sohn Jakob gezeigt wird, wie wir ihn hören und fühlen und seine Beobachtungen sehen, ist nicht besser zu machen. Und wenn wir aus der Fülle nur eine Szene herausgreifen wollten, um die Größe von "Lichtspiel" zu demonstrieren, so wäre das: die Premiere von Fritz Langs Film "Metropolis". Pabst ist dabei. Wir sind dabei. Und erleben, wie ein Film wirkt, was ein Film im Publikum auslöst, wie hinterher gesprochen und nicht gesprochen werden kann – sorry, das ist einfach genial.
"Lichtspiel" zeigt wie der Filmregisseur G.W. Pabst als Star nach Hollywood kommt und scheitert. Wie er zurückkommt nach Deutschland und wie ihm das Dritte Reich Film um Film ermöglicht. Auch, wie er geführt und überwacht wird von Propagandaminister Goebbels und seinen Handlangern. Wie er selber zum unfreiwilligen Handlanger wird – wie der Regisseur sich schließlich schuldig macht und was diese Schuld mit ihm macht.
"Lichtspiel" ist ein Buch, das auf so viele verschiedene Weisen hätte scheitern können – aber es stimmt einfach alles an diesem Buch. Geschichte, Menschen, Rhythmus, Musikalität, Abgründe, Dramaturgie und die Sprache – alles ist genau und richtig getroffen.
"Lichtspiel" ist absolute Weltliteratur – so ein Buch kommt wirklich nicht dauernd vor in der deutschsprachigen Literatur - und auch nicht draußen in der Welt.
Stand: 29.10.2023 18:00 Uhr
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