So., 29.01.23 | 23:35 Uhr
Das Erste
Anna Marwan: "Verpuppt"
Der Mensch ist die Geschichte! Wie Ana Marwan ganz neue Wörter für die Welt findet!
Kann ein alter Mann unschuldig mit einem jungen Mädchen Freundschaft halten? Herr Jež, der angeblich im Ministerium tätig ist, Abteilung Raumfahrt, überdies seit kurzem Besitzer eines bedeutenden Trenchcoats, beäugt skeptisch die eigene Frau, die plötzlich Präservative in der Handtasche mit sich trägt, er kennt auch eine Frau Lah, die ihn nicht versteht, aber bekocht, und trifft Rita, die sich nicht recht entscheiden kann, wer sie eigentlich ist. All die anderen aber reden immer darüber, so scheint es.
"Jež fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar. Es war lang. Wenn er noch etwas zuwartete, könnte er es zu einem Schopf binden. Er überlegte, was er sagen würde. Er würde gern die schönen Worte sagen, die aus den Büchern in ihn eingegangen waren. Wenn ständig etwas zufließt, muss es auch irgendwo abfließen, damit es nicht über den Rand geht, außer er ist unendlich tief, also ein Poet. Aus dem Blei seiner Füße könnte er sich einen Tiefenmesser machen. Oder versuchen, von Liebe zu sprechen. Sehnsucht."
Vielleicht ist das ein Märchen. Eine Traumnotiz. Ein klinisches Protokoll. Oder eine ganz normale Geschichte aus dem Land Österreich. Möglicherweise aber auch etwas ganz anderes. Literatur ist ja immer ein Spiel mit Möglichkeiten, mit Schein und Sein. Ana Marwan benutzt tatsächlich die gleichen Buchstaben, ganz ähnliche Wörter wie wir, und erfindet damit nicht nur ihre eigene Sprache, sondern auch eine sehr spezielle, verrückte, berührende, ziemlich schräge Wirklichkeit. Ein großes Vergnügen!
Ana Marwan, geboren 1980 in Slowenien, studierte Literaturwissenschaft und Romanistik und lebt in Wien. 2022 gewann sie in Klagenfurt den Bachmann-Preis.
Stand: 29.01.2023 18:00 Uhr
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