SENDETERMIN Mo., 11.10.21 | 00:15 Uhr | Das Erste

Denis Scheck kommentiert die Top Ten Belletristik

Denis Scheck kommentiert die Top Ten Belletristik | Video verfügbar bis 11.10.2026 | Bild: DasErste.de

10) Sally Rooney: "Schöne Welt, wo bist du”

Der Titel stammt von Friedrich Schiller, der in seinem Gedicht "Die Götter Griechenlands” über unsere entseelte Welt klagte: "Schöne Welt, wo bist du? Kehre wieder, / Holdes Blütenalter der Natur! / Ach, nur in dem Feenland der Lieder / Lebt noch deine fabelhafte Spur." Sally Rooney fragt nun, was eigentlich schiefgelaufen ist, warum unsere Gegenwart nicht die schöne Welt ist, die wir und Schiller uns erträumten. Was für eine irre Mischung: Rooney schreibt über zwei junge irische Freundinnen, deren Liebesqualen und salonkommunistische Weltanschauungen, Jane Austen begegnet hier Karl-Marx, recht detaillierte Sexszenen wechseln sich ab mit Klimawandel-Weltuntergangsphantasien und essayistischen Passagen über den Kollaps der Bronzeit-Kulturen im Mittelmeerraum um 1200 vor Christus. Intelligente Unterhaltungsliteratur – mindestens.

9) Carsten Henn: "Der Buchspazierer" 

Dieser zum Gruseln verkitschte Roman über einen Buchhändler, der für jeden armen Tropf den richtigen Schmöker parat hat, soll eine Reklame fürs Lesen sein, ist aber eher ein Grund, damit aufzuhören.

8) Daniela Krien: "Der Brand”

Ein seit 28 Jahren verheiratetes Paar aus Ostdeutschland scheint vor dem Aus seiner Ehe zu stehen. Der Mann, ein Germanistikprofessor, wird zur Zielscheibe der politisch Korrekten; die Frau, eine Psychotherapeutin, sinnt darüber nach, inwiefern die Traumata ihrer Familiengeschichte in ihr weiterwirken. Ihre gemeinsame Tochter ist ein Vampir von Ego-Monster. Daniela Krien ist unter den deutschen Gegenwartsautorenn die Beziehungsexpertin und besitzt einen Röntgenblick für Familienkonstellationen.

7) Susanne Abel: "Stay Away From Gretchen”

Dieser gut konstruierte Roman über die Liebe zwischen der deutschen Greta und dem schwarzen Besatzungssoldaten Robert nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert daran, wie lang der Weg aus einem von Rassismus und Bigotterie geprägten Nachkriegsdeutschland war – und welche Wegstrecke zu einer gerechteren Gesellschaft noch vor uns liegt. 

6) Simon Beckett: "Die Verlorenen" 

Beckett hat einen neuen Ermittler namens Jonah Colley erfunden, der vor zehn Jahren seinen Sohn verlor und von seiner Ehefrau betrogen wurde; sonst ist es aber ganz derselbe Gewaltporno wie eh und je. 

5) Volker Klüpfl, Kobr: "Morgen Klufti wird’s was geben"

Eine Weihnachtsgeschichte mit dem Allgäuer Kult-Kommissar, der leider, seit er Opa geworden ist, an fortschreitender "Butzele"-Verblödung leidet. Was kommt als nächstes: Themen-Bettwäsche? Motiv-Socken? Strandtücher?

4) Sven Regener: "Glitterschnitter"

Sven Regener inszeniert in seinem neuen Roman erneut ein großes Festival der Dialekte und kehrt zurück ins Westberlin der 80er. Regener erzählt von Kunst, Kommerz und Liebe, vom Aufstieg einer Band namens Glitterschnitter in der Besetzung Synthesizer, Schlagzeug, Bohrmaschine und vom Siegeszug des Milchkaffees in Kreuzberg. Ein großer Spaß.

3) Eva Menasse: "Dunkelblum"

In einem burgenländischen Städtchen namens Dunkelblum wurden im Frühjahr 45 an die zweihundert jüdische Zwangsarbeiter massakriert. Die Einwohner halten über Jahrzehnte dicht, wer die Täter waren und wo die Toten verscharrt wurden. Eva Menasses Roman ist eine Meditation über die Mechanismen der Erinnerung, die Macht des Schweigens und die Wiederkehr des Verdrängten – vor allem aber ist "Dunkelblum" eine grandios inszenierte Sprachoper.

2) Juli Zeh: "Über Menschen" 

Eine Frau ist genervt von ihrer Beziehung, die immer "sortenreiner" wird: also verlässt sie ihren kontrollsüchtigen Berliner Mann, kauft sich ein renovierungsbedürftiges Haus auf dem platten Land in Brandenburg und kommt dort in der politischen Realität Ostdeutschlands an. Weil Juli Zeh Ambivalenzen darzustellen weiß, gelingt ihr die glaubhafte Charakterzeichnung von Neonazis, Rassisten, Verschwörungstheoretikern, AfD-Wählern und sozial Abgehängten. Man wird diese Menschen nicht mögen, aber man lernt sie in diesem Roman kennen und verstehen. Auch das ist eine Aufgabe von Literatur

1) Hervé Le Tellier: "Die Anomalie"

Ein Flugzeug auf dem Weg von Paris nach New York landet im Abstand von 106 Tagen zweimal in USA: an Bord exakt dieselben Menschen. Ein Zeichen Gottes? Oder des Teufels? Reißt das dünne Gewebe unserer Wirklichkeit? Wie nun mit den Klonen umgehen? Wer ist mit wem verheiratet? Wer hat Zugriff aufs Konto? Selten stand ein intelligenteres Buch an der Spitze der deutschen Bestsellerliste. Vive la France, vive la litterature francaise, vive Hervé Le Tellier!

Stand: 10.10.2021 18:00 Uhr

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Bayerischer Rundfunk
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