Gespräch mit Bahara B. Zschernack

Fachberaterin für den „Tatort: Geisterfahrt“

Farewell: Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler)
Farewell: Charlotte Lindholm.  | Bild: NDR / Christine Schröder

Der Film thematisiert auf mehreren Ebenen den Umgang mit Gewalt im privaten Umfeld. Wie bewerten Sie die Darstellung des psychologischen Verhältnisses zwischen dem gezeigten Paar? Hier scheint es ja eine doppelte Abhängigkeit zu geben, die den Täter und das Opfer zusammenhält.

Die Aussage „Täter sind oft selber Opfer“, die ausgerechnet die Frau von Liebig macht und die die Gewalt damit zu relativieren scheint, ist in der Tat zu kurz gegriffen, um die vielschichtige Dynamik zu erklären. Ich finde die Darstellung bei dem gezeigten Paar sehr gelungen, da die Beziehungsstruktur aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet wird. Beide sind kein „unbeschriebenes Blatt“ - sie hat eine Vorgeschichte mit einer schrägen Beziehung und ist von ihrem späteren Mann aus ihrer Sicht „gerettet“ worden und fühlt sich zu „ewiger Dankbarkeit“ verpflichtet. Er hingegen gesteht sich seine fehlende Impulskontrolle nicht ein und sucht bei ihr die Schuld für seine Gewaltausbrüche und ist gleichzeitig verzweifelt, wenn sie sich zurückzieht.

Was viele Betroffene in der Gewaltbeziehung hält, ist die vorhandene Bindung bis hin zur emotionalen Abhängigkeit. Aus traumasensibler Sicht ist davon auszugehen, dass es in der Kindheit oder Jugend Missbrauchserfahrungen oder andere Bindungstraumatisierungen gab, so dass sich beide gegenseitig triggern und Situationen eskalieren können. In der Psychologie spricht man dann vom sogenannten Double Bind, also einer Doppelbindung, wenn zwei entgegengesetzte Botschaften gleichzeitig vermittelt werden. Um aus dieser Dynamik aussteigen zu können, braucht es oft eine Überprüfung bzw. Bestätigung der eigenen Wahrnehmung - daher ist es so wichtig, sich jemandem anzuvertrauen oder sich fachliche Unterstützung zu holen.

Bei den Protagonistinnen Charlotte Lindholm und Anaïs Schmitz gibt es ebenfalls ein großes Spektrum an Reaktionen auf den Täter - von Unglauben und Solidarisierung bis zu Scham und Schuldgefühlen, sich nicht früher eingemischt zu haben. Ist das realistisch dargestellt und wie kann man sich richtig verhalten, wenn man meint/ ahnt, dass jemandem Gewalt in einer Beziehung zugefügt wird?

Ja, diese Achterbahn der Gefühle und Gedanken ist durchaus realistisch dargestellt! Die verschiedenen Vorurteile und Aspekte sind sehr schön zwischen den Protagonistinnen verteilt, und selbst zwischen den beiden gibt es ja eine ganz eigene Beziehungsdynamik und auch Sprachlosigkeit. Charlotte Lindholm steht hier als Repräsentantin, der eigenen Wahrnehmung und dem „Bauchgefühl“ zu trauen, sei es in Bezug auf die Verletzungen bei Liebigs Frau oder beim Ausnutzen seiner Machtposition als Vorgesetzter. Sie riskiert, dass sie mit ihrer Wahrnehmung alleine dasteht, und das ist auch die Perspektive von Betroffenen, daher ist eine solidarische, achtsame Haltung so wichtig. Wenn man einen Verdacht hat und etwas ansprechen möchte, so nie über den Kopf oder Willen der betroffenen Person hinweg. Lindholm macht vor, wie es richtig geht, wenn sie Unterstützung anbietet im Sinne von „du kannst dich jederzeit bei mir melden, ich bin für dich da“. Zur eigenen Entlastung ist es ebenso wichtig, auf spezialisierte Fachstellen zu der Thematik oder auf das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ hinzuweisen.

Der Film punktet für mich insbesondere durch den gesellschaftlichen Kontext, denn die Beziehungen werden nicht im luftleeren Raum dargestellt, sondern legen den Finger auf mehreren Ebenen in die Wunde: Abhängigkeit, Machtmissbrauch, Ohnmacht und Verstrickung werden ja auch innerhalb der Hierarchie in der Polizeidienststelle bis hin zur Polizeipräsidentin sowie beim Paketdienst und seinen diversen ausbeuterischen Subunternehmen aufgezeigt.

Es gibt die Sorge, dass die Darstellung von Gewalt als Trigger wirken kann. Es wird befürchtet, wenn Opfer von z. B. Beziehungsgewalt oder sexualisierter Gewalt die filmische Darstellung von Gewalt sehen, dies bei ihnen starke Gefühle oder Erinnerungen auslösen kann. Was sollten Filmemacher*innen aus Ihrer Sicht versuchen zu berücksichtigen, damit dies nicht passiert?

Die Sorge, dass Zuschauer*innen durch diese Darstellungen getriggert werden können, ist natürlich völlig berechtigt, und neben starken Gefühlen oder Erinnerungen kann es dabei durchaus auch zu einer Retraumatisierung kommen. Dabei wird die vergangene Gewaltsituation sozusagen in Echtzeit wiederdurchlebt, was für das Nervensystem und die Psyche eine starke Belastung darstellt, die es nach Möglichkeit zu verhindern gilt. Insgesamt leben wir in einer traumatisierten Gesellschaft, wie es z. B. Prof. Dr. Franz Ruppert in seinen Büchern sehr gut beschreibt, da ist die Gefahr der Reproduktion von Gewaltklischees groß. Hier sehe ich Filmemacher*innen tatsächlich in der Verantwortung, denn sie können (ggf. mit fachlicher Unterstützung) dazu beitragen, dass Gewalt und Machtmissbrauch in einer achtsamen Art thematisiert und Auswege aufgezeigt werden.

Hier greift das Motto „weniger ist mehr“. Hilfreich ist auch die Leitfrage „was ist der Sinn oder Mehrwert der Gewaltdarstellung?“. Geht es darum, Einschaltquoten durch vermeintlichen „Nervenkitzel“ und die Darstellung von Frauen als hilflose Opfer oder „Sexobjekte“ zu erhöhen, oder reicht es, Gewaltszenen nur anzudeuten, wie es in dem aktuellen „Tatort“ in Form von kurzen Erinnerungssequenzen sehr gut gelungen ist?

Hilfreiche Adressen

Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: Tel. 116 016 (gilt bundesweit) hilfetelefon.de
Datenbank vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe e.V.: frauen-gegen-gewalt.de/de/ aktuelles.html
Webseite von Dami Charf mit Informationen rund um die Themen Trauma und Heilung: https://traumaheilung.de/

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