Statement von Friedemann Fromm

Autor und Regisseur

Streik im Möbelkombinat: Martin (Florian Lukas) und Maik Hüne (Aram Tafreshian) und Arbeiter.
Streik im Möbelkombinat: Martin und Maik Hüne und Arbeiter. | Bild: ARD / Julia von Vietinghoff

»Die Zeit schien stillzustehen in diesem magischen Sommer 1990 – und raste doch orkanartig vorwärts. Alles schien möglich, nichts war sicher. Eine magische Zeit, eine Zeit, in der sich Schicksale entschieden und Träume gelebt oder beerdigt wurden. Schier unermessliche Erwartungen wurden mit dem Fall der Mauer verknüpft und erst recht mit der Einführung der D-Mark. Und viele Hoffnungen wurden brutal enttäuscht.

Wenn man das Verhältnis zwischen Ost und West im Heute verstehen will, dann muss man auf diese Zeit schauen, in der das Alte noch nicht überwunden war und seine Vertreter um ihre Zukunft kämpften. Und in der das hereinbrechende Neue völlig überfordert und nicht selten voller Überheblichkeit die DDR wirtschaftlich in eine unfassbare Krise stürzte und Kohls Gerede von den blühenden Landschaften als zutiefst zynische Lüge erscheinen ließ.

Welches Format, wenn nicht "Weissensee", wäre in der Lage, diese wilde und unübersichtliche Gemengelage, die inzwischen Teil der gesamtdeutschen Geschichte ist, spannend und nachvollziehbar zu erzählen, mit einem Reichtum an Figuren, der die Widersprüchlichkeit der Zeit glaubwürdig abbildet.

Ich war schon immer fasziniert von der vermeintlichen Stunde Null der deutschen Geschichte; war voller Bewunderung für die Menschen im Osten, die sich fast über Nacht in einem anderen System zurechtfinden mussten. Einem System, das fremd war und oft unverständlich. In dem sie nicht selten gnadenlos über den Tisch gezogen wurden von ihren soge- nannten Brüdern und Schwestern aus dem Westen. Diesen kollektiven Bruch in der Biografie, den haben wir Menschen aus dem Westen – wenn überhaupt – erst sehr spät verstanden, und entsprechend ignorant gehen wir zum Teil bis heute damit um. An diesem Bruch sind die Menschen entweder gewachsen oder zerbrochen, haben angefangen zu kämpfen oder haben sich aufgegeben; und selbst ein Vierteljahrhundert später ist dieser Bruch in den Biografien präsent. Hier wurzelt viel von der Frustration, die sich aktuell in Pegida und AfD ausdrückt. Dieses Gefühl, verlassen, betrogen und belogen worden zu sein, wird zum Teil von Generation zu Generation weitergegeben und hat sich inzwischen verselbständigt, ist oft nur noch Vorwand, um nicht selbst Verant- wortung für sein Leben zu übernehmen. Aber der Ursprung dieser Frustration, der hat Gründe, und es lohnt sich, dort genau hinzusehen.

Man hat den Menschen damals nicht die Wahrheit gesagt über das, was auf sie zukommen wird, man hat sie nicht für voll genommen und war an ihrer Erfahrung nicht interessiert. Der Osten war für den westdeutschen Kapitalismus nie als Produktionsstätte interessant, sondern nur als Absatzort – Millionen neuer Kunden, aber bloß keine unliebsame Konkur- renz. In diesem Kontext spielen die großen westdeutschen Konzerne eine sehr unrühmliche Rolle – allen voran die Banken und Versicherungen. Und natürlich die Treuhand, die teils aus Überforderung, teils auf politischen Druck hin den Ausverkauf des Ostens massiv vorantrieb.

Doch auch die Legende vom Osten als kollektivem Opfer ist nur eine Legende und ebenso wenig wahr wie die Geschichte vom Westen als alleinigem Täter. Es herrschte damals eine extrem unübersichtliche Gemengelage und die Wiedervereinigung war ein Projekt von historisch nie dagewesenem Ausmaß. Außerdem war der Osten – anders als man es den Menschen erzählt hat – wirtschaftlich komplett am Ende.

In der vierten Staffel von "Weissensee" geht es darum zu erzählen, wie Menschen versuchen, sich in dieser einzigarti- gen Zeit durchzuschlagen, ihr Glück zu wagen oder wenigs- tens Unglück zu vermeiden. Es geht darum, wie Vertreter des alten Systems alles tun, um in der Niederlage noch ihren Schnitt zu machen; wie andererseits die junge Generation nach Orientierung sucht und Halt in der neuen Freiheit, die auch Chaos ist – aufregend, aber auch gefährlich. Es geht um Menschen, die den Mut haben, den Kapitalismus offensiv anzugehen und das Beste daraus zu machen – einige mit Erfolg, andere ohne. Es geht auch darum, wie in diesem Umbruch Wahrheiten nach oben gespült werden, die Men- schen dazu zwingen, ihr eigenes Leben neu zu bewerten und sich ihrer Schuld zu stellen, um dann daraus – zum Teil existenzielle – Konsequenzen zu ziehen. Es geht um das Aufregende, ja Rauschhafte dieser neuen Zeit, aber auch um ihre Abgründe und Dämonen.

Jede/r in der Familie Kupfer ist gezwungen, sich zu dieser neuen Zeit und ihren Verführungen, aber auch Gefahren zu verhalten. Das gilt nicht nur für Martin, Falk und ihre Eltern, sondern auch für ihre Kinder, die einen vollkommen anderen Weg wählen, mit der Zeit umzugehen. Es gilt aber auch für Figuren wie Görlitz und Nicole, die dem Kapitalismus die Stirn bieten, oder Vera, die glaubt, endlich ihren Platz gefunden zu haben. Einige der Figuren werden auf eine völlig unerwartete Weise mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, die durch die Verwerfungen der Gegenwart nach oben gespült wird. Und das hat ungeahnte Konsequenzen, die in einer Katastrophe enden. Schlussendlich geht es um das große, zentrale Geheimnis der Familie Kupfer, und mit diesem Geheimnis entfaltet sich in der Familiensaga eine neue, ungeahnte Dimension, die die zentralen Figuren in völlig neuem Licht erscheinen lässt.

"Weissensee" hat mit der ersten Staffel das serielle Erzählen in Deutschland auf ein neues Niveau gehoben und sich seitdem konsequent mit jeder Staffel weiterentwickelt. Auch die vierte Staffel lotet die Möglichkeiten seriellen Erzählens weiter aus, indem sie die Familiengeschichte in die Zukunft und in die Vergangenheit weitererzählt und die Figuren noch tiefer in der Zeit verwurzelt, um sie von dort aus in neue, unerwartete Richtungen zu führen.«

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