Nach Reichsbürger-Razzia: Beschuldigte erhalten Zuspruch aus der Szene

Verdeckte Aufnahmen, die dem ARD-Politikmagazin REPORT MAINZ vorliegen, zeigen, dass die Gruppierung, die vor zwei Wochen Ziel einer bundesweiten Razzia war, in der Szene immer noch großen Zuspruch bekommt.

Polizisten führen Heinrich XIII. Prinz Reuß bei einer Razzia gegen sogenannte "Reichsbürger" ab.
Heinrich XIII. Prinz Reuß (2.v.r.) | Bild: dpa

Matthes Haug, ein Szene-bekannter Reichsbürger, dessen Wohnung im Rahmen der Anti-Terror-Razzia Anfang Dezember durchsucht wurde, prahlt auf dem Video hinter verschlossenen Türen mit seinen guten Kontakten zum mutmaßlichen Rädelsführer der aufgedeckten Vereinigung. Haug hatte am vergangenen Freitag in Baden-Württemberg einen Vortrag unter dem Titel "Das Deutsche Reich von 1871 bis heute" gehalten. Nach Recherchen von REPORT MAINZ nahmen knapp 30 Personen teil, darunter Querdenker, bekennende Fremdenfeinde und ein verurteilter Brandstifter.

Auf der Veranstaltung behauptet Haug gute Kontakte zum festgenommenen mutmaßlichen Rädelsführer der Vereinigung, Heinrich XIII. Prinz Reuß, zu haben, den er "ganz gut" kenne, "weil ich mich regelmäßig mit dem treffe". Aufnahmen, die dem ARD-Politikmagazin REPORT MAINZ von seinem Vortrag in einem Gasthof in Baden-Württemberg zugespielt wurden, zeigen, dass er den festgenommenen Heinrich XIII. Prinz Reuß als wichtigen Menschen und rechtmäßigen Fürst bezeichnet, der nun "diskreditiert" werde. Matthes Haug erklärt bei Auftritten immer wieder, dass Deutschland von den Alliierten militärisch besetzt sei, er sprach auf der Veranstaltung von einem "rechtsfreien Raum".

Auf dieser Veranstaltung hat Matthes Haug auch über seine Erfahrungen während der Razzia gesprochen. Verhaftet wurde er nicht. Seine Rolle ist bisher unklar.

Geplante Vorträge auch im nächsten Jahr

In einem kurzen Interview nach der Veranstaltung sagte er gegenüber REPORT MAINZ, nach der Durchsuchung bei ihm Anfang Dezember sei er "völlig konsterniert". Er sei im Prinzip Pazifist, dass er einen Umsturz wolle, sei "Schwachsinn". Er sei kein Teil einer Vereinigung, habe sich mit dem mutmaßlichen Rädelsführer aber schon mal "ganz nett" unterhalten. Weitere schriftliche Fragen zu den Aussagen auf der Veranstaltung lässt er unbeantwortet.

Matthes Haug hielt schon das ganze Jahr über immer wieder Vorträge, die in Telegram-Gruppen angekündigt und beworben werden. Mehr als 40 solcher Ankündigungen für Vorträge seit Beginn des Jahres hat REPORT MAINZ gefunden, nach der Durchsuchung in seiner Wohnung führt der 62-Jährige seine Vorträge offenbar fort, wie der Termin vergangenen Freitag und weitere Ankündigungen für das kommende Jahr zeigen.

Teilnehmer lehnen System ab

REPORT MAINZ liegt eine Teilnehmerliste von dem Treffen in Baden-Württemberg vor wenigen Tagen vor, zu dem 26 Personen erschienen. Unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern waren nach Recherchen von REPORT MAINZ regional bekannte Organisatorinnen von Corona-Demos, bekennende Reichsbürger oder auch ein Teilnehmer, der vor einigen Jahren eine geplante Flüchtlingsunterkunft anzündete und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde.

Mit einigen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnte REPORT MAINZ nach der Veranstaltung sprechen. Manche von ihnen zeigten sich von der Anti-Terror-Razzia belustigt, andere witterten eine Verschwörung oder sprachen von einem gezielten "Einschüchterungsversuch". Sie alle einte, dass sie das System ablehnen und sich von Politik und Medien belogen fühlen.

Extremismusforscher: Radikalisierung weit fortgeschritten

Im Interview mit REPORT MAINZ spricht Johannes Kiess, der an der Universität Leipzig zu Extremismus forscht, von einem Zusammenwachsen verschiedener "Milieu-übergreifender Strömungen", bestehend zum Beispiel aus alten Neonazis, Rechtsextremisten, Corona-Gegnern oder Esoterikern, zu denen nun auch die vor den Corona-Demos eher verstreut lebenden kleineren Gruppen von Reichsbürgern stießen. Ideologische Strömungen nutzten diese Situation, "um ihre Erzählungen an Leute zu bringen, die einfach auf der Suche sind nach irgendeiner Erzählung, irgendeiner Geschichte, die eben zu ihrer eh schon vorhandenen Verachtung der Demokratie passt."

Die Gefahr, die nun bestehe, sei "dass diese Gruppen das als Möglichkeit sehen" sich durch die stattgefundene Vernetzung nach fast drei Jahren Corona-Pandemie "handlungsfähig" zu fühlen. Kiess sagt im Gespräch mit REPORT MAINZ: "Wir werden sicherlich in den nächsten ein, zwei Jahren noch weitere solche Gruppen sehen, weil eben diese Radikalisierung in diesen Gruppen so weit fortgeschritten ist und die Leute tatsächlich gewaltbereit sind und zur Tat schreiten wollen, also das Widerstandsnarrativ tatsächlich auch in die Tat umsetzen wollen."

Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz sieht in der Mischszene, in der "Reichsbürgerideologien, Verschwörungserzählungen aus dem Bereich der Delegitimierer und rechtsextremistische Narrative zusammenfließen", ein erhöhtes Risiko. Das bei der Razzia am 7. Dezember aufgedeckte Netzwerk sei ein "Musterbeispiel für die Herausbildung einer neuen gewaltorientierten Mischszene". Gegenüber REPORT MAINZ erklärt die Behörde, Verschwörungsmythen nähmen dabei eine Scharnierfunktion ein. "Vor allem die Propaganda von einem bevorstehenden 'Tag X'" könne in solch heimlich agierenden Gruppen "einen erheblichen Handlungsdruck erzeugen und letztlich Auslöser schwerer Gewalttaten sein."

Stand: 20.12.2022, 18.12 Uhr