Deutsche Bahn: Chaotisches Notfallmanagement für Fahrgäste

Recherchen des ARD-Politikmagazins REPORT MAINZ ergeben: In diesem Sommer steckten tausende Bahnreisende oft stundenlang in Zügen ohne funktionierende Klimaanlage fest, weil unter anderem die Energieversorgung im Zug ausfiel. Teilweise herrschte in den Zügen Panik, mehrere Passagiere kollabierten. Interne Bahn-Protokolle, die dem ARD-Politikmagazin vorliegen, belegen, dass aus unterschiedlichen Gründen wertvolle Zeit verloren gehen kann, bis DB-Notfallmanager eintreffen und Züge evakuiert werden können.

Text des Beitrags:

Eingeschlossen in einem ICE, seit Stunden. Sabine Kinkartz wartet mit Hunderten anderen auf Rettung - und die Temperaturen steigen.

Sabine Kinkartz, Reisende:
„Wie lange kann man das ertragen? Es ist ein Gefühl der Unsicherheit, man fühlt sich ausgeliefert.“

Ähnliches hat auch er erlebt - in einem stehenden Regionalexpress, zusammen mit 1.200 Menschen. Manche in panischer Angst:

Lionel Kreglinger, Reisender:
„...die hat angefangen, das Vaterunser zu beten. Da dachte ich: Bin ich hier in einem überdrehten Katastrophenfilm?“

Es ist ein Sonntagnachmittag im Juni, als gegen halb vier der zwölf Wagen lange ICE 79 plötzlich stehenbleibt - mitten auf der Saale-Elster-Brücke bei Halle, in 21 Metern Höhe.

Die Journalistin Sabine Kinkartz ist an Bord des proppenvollen ICE 4.

Sabine Kinkartz
Sabine Kinkartz | Bild: SWR

Sabine Kinkartz, Reisende:
„Draußen waren es 30 Grad. Die Sonne knallte da drauf, es gab keine Klimaanlage und keine Belüftung mehr. Und dann drehten sich Leute vor mir um und sagten: Da hinten liegt jemand auf dem Boden. Und wenn man hört, dass da jemand kollabiert ist, dann weiß man einfach, das kann dir auch passieren.“

Es ist bereits das zweite Mal, dass der Zug an diesem heißen Sommertag zum Stehen kommt. Zwei Mal in kürzester Zeit der gleiche Defekt - keine Energieversorgung.

„Temperatur im Zug für Fahrgäste nicht mehr auszuhalten.“

Wir bekommen das interne Protokoll dieser Zugfahrt zugespielt - darin alles minutengenau festgehalten: Um 16:20 Uhr notiert der Zugführer im Protokoll: „Temperatur im Zug für Fahrgäste nicht mehr auszuhalten. Zwei Fahrgäste sind bereits kurz vor einem Kreislaufzusammenbruch. Ein Seelsorger hat sich bereiterklärt, sich um Fahrgäste mit Panikattacken zu kümmern.“

Knapp eine Stunde steht der Zug da schon. Schließlich sichern Soldaten, die mit im Zug sitzen, die Türen, so dass diese geöffnet werden können. Sabine Kinkartz filmt den Andrang an einer der Türen - alle wollen Frischluft.  

Sabine Kinkartz, Reisende:
„So nach zweieinhalb, drei Stunden kam dann die Durchsage, dass wir evakuiert würden. Und dann hieß es: Wir müssen die Türen jetzt wieder schließen.“

Doch dann geschieht wieder lange Zeit: Nichts.    

Sabine Kinkartz, Reisende:
„Das war so der Punkt, wo ich es wirklich existenziell fand, weil es so heiß war, dass ich nicht mehr wusste, wie lange ich das auch noch ertragen kann.“  

Dass es bis zu ihrer Rettung noch sehr lange dauern wird, ahnen die Reisenden zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Dazu später mehr.

Ist eine solche Situation ein seltener Notfall? Wir fragen einen DB-Lokführer. Anonym teilt er mit uns Erfahrungen aus seinem Berufsalltag.  

Lokführer (anonym):
„In ganz Deutschland bleiben sehr viele Züge liegen, neue Züge, neue ICE-Züge, und die Evakuierungsmaßnahmen dauern zu lange - durch unorganisiertes Handeln, durch falsches Handeln. Und die Ursachen dafür sind nicht mehr nachvollziehbar.“

Im Durchschnitt 47 Zug-Evakuierungen im Monat

Kann das sein? Wir kommen an weitere Protokolle der internen Kommunikation, stellen fest: In diesem Sommer strandeten zahlreiche Züge mitten im Nirgendwo.  

Vor einer Woche bleibt ein ICE bei Hamburg stehen. Die Reisenden warten knapp vier Stunden, bis sie evakuiert werden. Frankenthal im Juni: Zwei Stunden, bis die Reisenden den Zug verlassen und die Gleise betreten können. Und über das gesamte Bundesgebiet verteilt: Störungen an der Oberleitung, Bäume auf den Gleisen, Technik, die streikt.

Wie viele Züge tatsächlich pro Jahr auf offener Strecke liegenbleiben und evakuiert werden müssen - die genauen Zahlen will uns die Deutsche Bahn nicht nennen. Ein Sprecher schreibt uns:  

Deutsche Bahn AG:
„Zugevakuierungen sind äußerst selten. Im Jahr 2022 lag der Anteil der Züge, die auf freier Strecke evakuiert werden mussten, bei knapp 0,004 Prozent.“

Eine scheinbar verschwindend geringe Zahl. Doch täglich rollen rund 39.000 Personenzüge auf dem deutschen Schienennetz. Jeden Tag bleiben im Schnitt also 1,56 Züge auf offener Strecke liegen, die evakuiert werden müssen. Im Durchschnitt also 47 Züge im Monat.

„Erstickungsgefahr“ in liegengebliebenen Zügen ohne Strom

Eine realistische Zahl, so Bahnforscher Markus Hecht. Er kritisiert, dass bei Evakuierungen von Zügen oft wertvolle Zeit verloren ginge, dadurch Menschen in Gefahr gerieten. 

Prof. Markus Hecht
Prof. Markus Hecht | Bild: SWR

Prof. Markus Hecht, Technische Universität Berlin:
„Wenn die Lüftung ausfällt in den Fahrzeugen, dann fällt viel CO2 an und es besteht tatsächlich Erstickungsgefahr für die Personen, wenn das jetzt eben sehr lange geht, weil gar kein Luftaustausch mehr stattfindet.“

Solch eine Situation löste in diesem gestrandeten, vollbesetzten Zug bei Birkenwerder in Brandenburg Panik aus. Die Zugreisenden sind so verzweifelt, dass sie sogar das Fenster einschlagen.

Wolfgang Lange von der Freiwilligen Feuerwehr leitete den Rettungseinsatz.

Wolfgang Lange, Einsatzleiter Feuerwehr Birkenwerder:
„Nach unseren Informationen sollen es circa 50 Grad im Zug gewesen sein. Das ist natürlich schon eine gefährliche Situation. Man weiß ja nicht, wie die reagieren.“

Die Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn vor Ort sieht Wolfgang Lange kritisch.   

Wolfgang Lange
Wolfgang Lange | Bild: SWR

Wolfgang Lange, Einsatzleiter Feuerwehr Birkenwerder:
„Da kam nichts irgendwie von Seiten der Bahn. Also man musste alles denen im Prinzip aus der Nase ziehen. Also dieses Notfallmanagement ist da stark verbesserungswürdig, würde ich einschätzen.“

Tatsächlich ein häufiger Grund für zähe Evakuierungen: Der sogenannte „Notfallmanager“ der Deutschen Bahn. Im Regelwerk steht, dieser sei „verfügbar nach maximal 30 Minuten“.

Die 30 Minuten bis zum Eintreffen des DB-Notfallmanagers werden „regelmäßig überschritten“

Landesbranddirektor Thomas Egelhaaf sitzt in einem Ausschuss der Innenministerkonferenz zu Feuerwehrangelegenheiten und Katastrophenschutz. Dauerthema: die Deutsche Bahn. Denn die Feuerwehren sind meist schnell bei den Zügen, dürfen aber erst eingreifen, wenn ein „sicherer Zustand“ am Gleis herrscht.  

Thomas Egelhaaf, Landesbranddirektor Baden-Württemberg:
„Sicherer Zustand heißt Bahn-Oberleitung abgeschaltet, Bahn geerdet und auf der anderen Seite Zugverkehr eingestellt.“

Das kann nur der Notfallmanager veranlassen.  

Thomas Egelhaaf
Thomas Egelhaaf | Bild: SWR

Thomas Egelhaaf, Landesbranddirektor Baden-Württemberg:
„Derzeit ist die Feuerwehr in vielen Fällen einfach blockiert. Permanent wird schon der Wunsch geäußert, hier auch darauf hinzuwirken, dass diese 30 Minuten, die ja in den Konzepten drin sind, auch als maximaler Wert angesetzt werden. Die Lebenserfahrung, die Einsatzerfahrung, zeigt in vielen Fällen, dass die Zeiten regelmäßig überschritten werden.“

Dass es viel länger dauert, hat auch Lionel Kreglinger erlebt. Hier in der Wuhlheide bei Berlin endete seine Reise mit der Deutschen Bahn abrupt. Der Journalist und 1.200 weitere Reisende, darunter wieder einige Soldaten, stranden auf offener Strecke. Viele verlassen den Zug schließlich auf eigene Faust, erzählt er uns. 

Lionel Kreglinger im Gespräch mit unserer Autorin
Lionel Kreglinger im Gespräch mit unserer Autorin | Bild: SWR

Lionel Kreglinger, Reisender:
„Es war jedenfalls niemand von der Deutschen Bahn, sondern es waren eben diese Soldaten, die dann letztendlich, also diese zwei, die dann so ein bisschen diese Aufgabe übernommen haben, von wegen durch den Zug gegangen: Leute, also stellt euch darauf ein, es geht jetzt erst mal nicht weiter.“ 

Auf Nachfrage teilt die Deutsche Bahn mit, die Einsatzkräfte seien circa nach 30 Minuten vor Ort gewesen, die Evakuierung habe etwa 30 Minuten gedauert.

Eingesperrt im liegengebliebenen Zug: Wie in einem „Katastrophenfilm“

Lionel Kreglinger erzählt, der Zug sei stundenlang liegengeblieben. Das interne Protokoll stützt seine Beschreibung. In diesen Stunden wurde die Lage im Zug immer angespannter.

Lionel Kreglinger, Reisender:
„Da saß eine ältere Reisegruppe, die hat angefangen das Vaterunser zu beten. Da dachte ich: Bin ich hier in einem überdrehten Katastrophenfilm?“ 

Das Ende einer Zugreise, für viele ein Nervenkrieg.

Warum braucht die Deutsche Bahn oft so lange, um die Menschen zu befreien? Bei unserer Recherche finden wir heraus: Der Zuständigkeitsbereich der Notfallmanager ist in 163 Bezirke aufgeteilt - früher waren es deutlich mehr Zuständigkeiten, nämlich 180.  

Es gelingt uns, mit einem Notfallmanager darüber zu sprechen. 

Notfallmanager (Gedächtnisprotokoll):
„Es ist so ein riesiger Bezirk, dass man selbst mit Blaulicht teilweise 40 Minuten unterwegs ist. Und wenn es ein Ereignis ist, wo wir das Blaulicht gar nicht nutzen dürfen, kann man auch mal eine Stunde oder länger brauchen, je nach Verkehrslage.“

Meldepflichtig sind solch liegengebliebene Züge nicht. Gesetzliche Vorgaben, wie schnell evakuiert werden muss, gibt es auch nicht. Das bestätigt uns das Eisenbahnbundesamt als zuständige Aufsichtsbehörde.

Thomas Büttner ist verkehrspolitischer Sprecher der Linksfraktion im brandenburgischen Landtag. Er beobachtet seit Monaten, dass immer wieder Züge in seinem Bundesland liegen bleiben - aber niemand diese Vorfälle erfasst.

Andreas Büttner
Andreas Büttner | Bild: SWR

Andreas Büttner, Die Linke, Fraktion im Landtag Brandenburg:
„Das zeigt wieder, in welch irrer Situationen wir eigentlich sind. Da sind Menschenleben in Gefahr und niemand meldet irgendetwas. Keiner führt angeblich irgendwelche Statistiken und keiner ist in der Lage, irgendeine Auskunft zu geben. Und ich finde, das ist auch eine Aufgabe nicht nur der Länder, für den Regiobetrieb, sondern des Bundesverkehrsministeriums.“

„Möglicherweise kritikwürdige Zugevakuierungen“

Was sagt das Bundesverkehrsministerium dazu? Zumindest scheint sich jetzt jemand mit Evakuierungsfällen zu befassen.

Bundesministerium für Digitales und Verkehr:
„Derzeit geht die Aufsicht des EBA im Rahmen von Verwaltungsverfahren konkreten, möglicherweise kritikwürdigen Evakuierungsfällen nach.“

Das Eisenbahnbundesamt will uns aber keine Details nennen, die Verfahren seien „noch nicht abgeschlossen“.

Wird sich dadurch etwas ändern? Vorerst bleibt festzuhalten: Zeitlimits werden immer wieder überschritten, Feuerwehren werden am Gleis oft allein gelassen und Zugevakuierungen werden nirgends gemeldet.

Zurück beim liegengeblieben ICE auf der Saale-Elster-Brücke: Die Passagiere warten seit nunmehr drei Stunden, bis ein Evakuierungszug am Gleis gegenüber bereitsteht - allerdings schon mit Reisenden. Daher wird nicht jeder mitfahren können. 

Mitarbeiter der Deutschen Bahn im evakuierten Zug:
„10 Reisende können jetzt noch mit.“

Sabine Kinkartz stoppt die Aufnahme, schafft es gerade noch in den Evakuierungszug. Die letzten 50 Fahrgäste müssen noch weitere eineinhalb Stunden im Zug warten. Immerhin geht dann die Klimaanlage wieder.

Stand: 23.08.2023 15:20 Uhr