Medizinischer Dienst: Umstrittene Pflegegutachten

Pflegebedürftige werden oft in zu niedrige Pflegegrade eingestuft und erhalten dadurch geringere finanzielle Leistungen. Nach unseren Recherchen mussten 2022 nach Widersprüchen fast 55.000 Einstufungen korrigiert werden.

Knapp 30 Prozent der Widerspruchsgutachten mussten 2022 durch den Medizinischen Dienst korrigiert werden. Der emeritierte Sozialrechtler Prof. Ingo Heberlein sieht die Zahl kritisch. Er war selbst jahrelang Geschäftsführer eines Medizinischen Dienstes.

Im Interview mit REPORT MAINZ kritisiert Heberlein, es müsse unbedingt versucht werden, diese Zahl nach unten zu bringen: durch Schulungen, durch genauere Untersuchungen. Viele Betroffene würden keinen Widerspruch einlegen, berichtet Katharina Lorenz vom Sozialverband Deutschland. Der Bescheid des Medizinischen Dienstes würde meistens hingenommen. Die Betroffenen hätten nicht mehr die Kraft, Widerspruch einzulegen.

Text des Beitrags:

Das Aufstehen fällt Adelheid Jünemann von Tag zu Tag schwerer. Und nicht nur das.

Adelheid Jünemann, Pflegebedürftige:
„Ich kann gar nichts machen. Das ist mein Problem. Ich habe furchtbare Schmerzen hier vorne drin in den Gelenken.“

Sogar bei den Augentropfen benötigt die 85-jährige Hilfe, heute durch den Pfleger des ambulanten Dienstes. Doch der hat wenig Zeit. Adelheid Jünemann hat Pflegegrad 3 und braucht dringend mehr Unterstützung im Alltag. Die kostet Geld - deshalb beantragt sie Pflegegrad 4. Das wären 183 Euro mehr Pflegegeld im Monat. Aber im Mai lehnt der Medizinische Dienst ihren Antrag ab, „nach Aktenlage“.  

Adelheid Jünemann, Pflegebedürftige:
„Ich war wahnsinnig wütend. Es war kein Gutachter da.“

Deshalb bittet sie Karin Svete um ein Zweitgutachten. Die Pflegefachkraft hilft Menschen, die sich vom Medizinischen Dienst falsch begutachtet fühlen. Über ein Tablet schaltet sie sich aus ihrem Büro in die Wohnung von Adelheid Jünemann.  

Karin Svete zu Adelheid Jünemann:
„Nach oben. Geht das? Aber es darf nicht weh tun.“

Sie kann so verlässlich einschätzen, wie viel Hilfe die alte Dame wirklich braucht. Karin Svete kommt zum Ergebnis: Adelheid Jünemann steht Pflegegrad 4 zu.

Fehler im Gutachten des Medizinischen Dienstes

Und findet abenteuerliche Behauptungen im Gutachten des Medizinischen Dienstes. 

Karin Svete, gesetzlich zugelassene Rentenberaterin Bereich Pflege:
„Das ist ja überhaupt das Schlimmste: Ihr pflegebedürftiger Mann, der Pflegegrad 4 hat, pflegt seine Frau an sieben Tagen je eine Stunde.“

Adelheid Jünemann
Adelheid Jünemann | Bild: SWR

Adelheid Jünemann, Pflegebedürftige:
„Mein Mann hat so starke Demenz, dass, wenn er das jetzt vorhätte, mich zu pflegen oder mir hilfreich zur Seite zu stehen, das dauerte keine Minute mehr, dann wüsste er es schon nicht mehr.“

Ein Gutachten zum Vergessen? Es ist noch schlimmer. 

Wirft man einen Blick in den Bescheid des Ehemanns mit Pflegegrad 4, erfährt man, dass er angeblich von Adelheid Jünemann versorgt wird. Und das auch an sieben Tagen in der Woche.  

Karin Svete
Karin Svete | Bild: SWR

Karin Svete, gesetzlich zugelassene Rentenberaterin Bereich Pflege:
„Die können sich selber nicht mehr pflegen und dann sollen sie sich gegenseitig pflegen. Wie geht das? Also ist dieses Gutachten… Es ist einfach nichts wert.“

Adelheid Jünemann wird jetzt Widerspruch gegen das Gutachten einlegen. 

Hohe Erfolgsquote bei Widersprüchen

Ist das ein Einzelfall? Wir machen eine Umfrage bei allen Medizinischen Diensten bundesweit. 2022 wurden insgesamt 2,5 Millionen Pflegegutachten erstellt. In über 185.000 Fällen wurde Widerspruch dagegen eingelegt.  

Wie ist diese Zahl zu bewerten? Das wollen wir von Katharina Lorenz vom Sozialverband Deutschland wissen. Der Verband berät viele Hilfesuchende.

Katharina Lorenz, Sozialverband Deutschland Niedersachsen, Leiterin Abteilung Sozialpolitik:
„Wenn sich dann jemand dazu aufrafft, einen Pflegegrad zu beantragen und diese erste Hürde nimmt, dann ist es meistens so, dass der Bescheid einfach hingenommen wird, weil man einfach nicht mehr die Kraft hat, sich auch in ein Widerspruchsverfahren zu begeben.“

Dabei haben Widersprüche nach REPORT MAINZ-Recherchen hohe Chancen auf Erfolg. Knapp 55.000 mal musste der Pflegegrad 2022 „bei gleicher Sachlage korrigiert“ werden, also bei knapp 30 Prozent aller Widerspruchsgutachten. Damit gestehen die Medizinischen Dienste ein, dass bundesweit drei von zehn beanstandeten Gutachten falsch waren.  

Kritik am Medizinischen Dienst

Der Sozialrechtler Prof. Ingo Heberlein sieht die Zahl kritisch. Er war selbst zwölf Jahre Geschäftsführer eines Medizinischen Dienstes.   

Prof. Ingo Heberlein, ehemaliger MDK-Geschäftsführer:
„Die 30 Prozent sind einfach hoch, zu hoch. Und es muss unbedingt versucht werden, diese Zahl nach unten zu bringen.“

Katharina Lorenz
Katharina Lorenz | Bild: SWR

Katharina Lorenz, Sozialverband Deutschland Niedersachsen, Leiterin Abteilung Sozialpolitik:
„Das ist ein unhaltbarer Zustand, denn wir haben hier Personen, die Anspruch auf Pflegeleistungen haben - das heißt auch finanzielle Unterstützung. Und die werden im Grunde hier tatsächlich einfach im Regen stehen gelassen, weil Pflegebegutachtungen nicht korrekt durchgeführt werden.“

Seit Ende Juli liegt auch das neue Gutachten des Medizinischen Dienstes von Adelheid Jünemann vor. Ihr Widerspruch: abgelehnt - wieder nach Aktenlage. Auch der selbst pflegebedürftige Ehemann taucht im Widerspruchsgutachten erneut als Pfleger seiner Frau auf. 

Karin Svete, gesetzlich zugelassene Rentenberaterin Bereich Pflege:
„Das Widerspruchsgutachten wurde abgeschrieben vom Gutachten im Mai. (…) Es ist absurd.“

Lauterbach spricht von Einzelfällen

Was sagt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zu solchen Fällen? Wir bekommen kein Interview. Schriftlich heißt es:

Bundesministerium für Gesundheit:
„Nur wenn aufgrund einer eindeutigen Aktenlage das Ergebnis der medizinischen Untersuchung bereits feststeht und durch eine erneute persönliche Begutachtung keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind, kann die Begutachtung ausnahmsweise auch ohne Untersuchung des Versicherten in seinem Wohnbereich erfolgen.“ 

Grundsätzlich aber würden Widerspruchsgutachten im Rahmen einer persönlichen Begutachtung durchgeführt - was bei Frau Jünemann so nicht gemacht wurde.

Adelheid Jünemann, Pflegebedürftige:
„Ich finde das, uns alten Leuten gegenüber, eine ganz große Beleidigung. Ich habe bei solchen Sachen manchmal man das Gefühl, dass wir überhaupt nicht mehr ernst genommen werden.“

Problematische demografische Entwicklung

Die medizinischen Dienste stehen auch durch die demografische Entwicklung unter Druck. Seit 2019 ist die Zahl der Pflegebegutachtungen von 2,1 auf 2,5 Millionen gestiegen - bei gleichzeitigem Fachkräftemangel.  

Prof. Ingo Heberlein, ehemaliger MDK-Geschäftsführer:
„Deswegen ja auch die Versuche, über andere Gutachtenformen einfach mehr Gutachten produzieren zu können.“

Andere Gutachtenformen? Tatsächlich finden wir eine beliebte Methode. 2022 wurden 835.000 Gutachten mit einem so genannten strukturierten Telefoninterview durchgeführt, also jedes Dritte. Es habe sich bewährt, sagt der medizinische Dienst, und sei zudem ressourcenschonend.  

Schlechte Erfahrungen mit Telefonbegutachtungen

Franziska Harms sieht das ganz anders. Nach einem Telefoninterview sei ihr Erstantrag auf einen Pflegegrad umgehend abgelehnt worden. Dabei habe das Gespräch nur wenige Minuten gedauert, erzählen sie und ihr Mann.  

Gottlob Schober, Autor:
„Wie fühlen sie sich jetzt?“

Franziska Harms, Pflegebedürftige:
„Einfach betrogen. Verarscht. Im Stich gelassen, ja. Und man möchte eigentlich Hilfe, wenn man da anruft.“

Jetzt beschäftigt sich Katharina Lorenz mit dem Fall. Sie ist sich sicher: Erstmalige Untersuchungen dürfen nicht telefonisch durchgeführt werden.

Katharina Lorenz, Sozialverband Deutschland Niedersachsen, Leiterin Abteilung Sozialpolitik:
„Weil es so tatsächlich auch geregelt ist, gesetzlich geregelt ist, und ausgeschlossen ist.“  

Der Medizinische Dienst Niedersachsen bestreitet den Gesetzesverstoß nicht und erklärt gegen über REPORT MAINZ: Wegen „eines Cyberangriffs“ seien Termine zur Gutachtenerstellung ausgefallen. Deshalb habe man in Abstimmung mit den „beauftragenden Kassen“ (…) „auch auf beschleunigte Verfahren wie die Telefonbegutachtung“ gesetzt. Auch von Franziska Harms hätte „die Begutachtung mittels strukturiertem Telefoninterview“ (…)  „jederzeit abgelehnt“ werden können, „ohne dass daraus ein Nachteil entstanden wäre“.   

Absurd: Denn jetzt hat Franziska Harms erst einmal den größtmöglichen Nachteil - nämlich keinen Pflegegrad durch eine gesetzwidrige Begutachtung.  

Franziska Harms (re.) neben ihrem Mann
Franziska Harms (re.) neben ihrem Mann | Bild: SWR

Franziska Harms, Pflegebedürftige:
„Und da muss man sich einfach wehren, auch wenn es schwer ist, aber das darf man sich nicht gefallen lassen.“

Widerspruch kann sich lohnen

Erst nach der REPORT MAINZ-Anfrage wurde Franziska Harms persönlich begutachtet - mit Erfolg: Jetzt hat sie Pflegegrad 2.  

Und wie geht es bei Adelheid Jünemann weiter? Gegenüber REPORT MAINZ räumt der Medizinische Dienst Westfalen-Lippe formale Fehler ein und entschuldigt sich beim Ehepaar. Adelheid Jünemann wurde jetzt im Rahmen eines Hausbesuchs begutachtet. Ergebnis: wieder Pflegegrad 3. Jetzt will sie vor dem Sozialgericht klagen.

Prof. Ingo Heberlein
Prof. Ingo Heberlein | Bild: SWR

Prof. Ingo Heberlein, ehemaliger MDK-Geschäftsführer:
„Widerspruch einlegen oder zum Sozialgericht gehen, ist immer eine sinnvolle Vorgehensweise. Denn wenn nicht richtig begutachtet worden ist, dann muss das natürlich auf diese Art und Weise repariert werden.“

Stand: 22.11.2023 17:14 Uhr