Antragsstau in Sozialämtern: Bewohnern droht Rauswurf aus Pflegeheimen

Sozialämter brauchen nach einer Umfrage des ARD-Politikmagazins REPORT MAINZ Monate, in Extremfällen sogar Jahre, bis Anträge auf „Hilfe zur Pflege“ entschieden werden. Pflegebedürftigen droht der Verlust des Heimplatzes, weil Einrichtungen kein Geld bekommen.

Text des Beitrags:

Ihre familiäre Leidensgeschichte beginnt im Oktober 2022, irgendwo in Niedersachsen, als ihr 69-jähriger Vater schwer stürzt. Ihren Namen möchte sie nicht nennen.

Tochter:
„Er ist dann mit dem Kopf aufgeschlagen, kam dann ins Krankenhaus, lag ungefähr drei Wochen im künstlichen Koma. Und erst der vierte Aufwachversuch hat dann funktioniert und ist jetzt durch ein Schädel-Hirntrauma pflegebedürftig.“

Der Vater kommt in ein Pflegeheim. Aber er kann die Rechnungen nicht zahlen. Monatlich fehlen rund 900 Euro. Seine Rente und das Geld der Pflegeversicherung reichen nicht aus.

Tochter:
„Also habe ich versucht, alles zu Geld zu machen, was irgendwie ging, habe die Wohnung gekündigt, habe seine Möbel verkauft - da kam noch ein bisschen Geld raus. Aber wir haben schnell gemerkt, also so ein paar Monate können wir vielleicht überbrücken, aber viel mehr wird es nicht sein.“

Deshalb stellt sie im April 2023 einen Antrag beim Sozialamt - auf „Hilfe zur Pflege“. Zehn Monate danach ist er immer noch in Bearbeitung. Aber Pflegeheime bekommen erst nach der Bewilligung durch das Sozialamt Geld und müssen in Vorleistung gehen. Auch das Vermögen des Vaters ist inzwischen aufgebraucht.

Tochter
Tochter | Bild: SWR

Tochter:
„Das Pflegeheim hat uns gedroht, meinen Vater vor die Tür zu setzen, wenn wir die laufenden Kosten nicht bezahlen können, egal wie. Und die Sorge kam dann halt auch noch dazu. Wie soll er dann versorgt werden?“

Der für das Sozialamt zuständige Landkreis schreibt uns zu dem Fall:
„Zum Zeitpunkt der Antragstellung“ habe es einen „extremen Personalengpass“ gegeben. „Die Antragsunterlagen der Tochter“ seien „nicht vollständig“ und „von einer drohenden Kündigung des Heimplatzes“ sei „nichts bekannt“ gewesen.

Diese Aussagen ärgern die Tochter. Über die drohende Kündigung des Heimplatzes habe sie mit einer Sozialamtsmitarbeiterin am Telefon gesprochen. Und den Vorwurf, die Antragsunterlagen seien unvollständig gewesen, weist sie zurück.

Tochter:
„Die Unterlagen hatte ich alle schon mal eingereicht. Die lagen ja schon seit einem halben Jahr beim Sozialamt. Nur die Frist war mittlerweile verstrichen, die das Sozialamt mir selber gesetzt hatte. Dadurch, dass die dann den Antrag auch nicht bearbeitet haben. Und dann waren die Belege natürlich alle nicht mehr aktuell.“

Unterschiedliche Standpunkte. Die Tochter muss weiter um Sozialhilfe für ihren Vater kämpfen.

In einer bundesweiten REPORT MAINZ Umfrage haben sich insgesamt 113 Sozialämter konkret zu den Bearbeitungszeiten von „Hilfe zur Pflege“ geäußert. Besonders gravierend ist die Situation in Berlin-Pankow. Dort müssen Antragsteller „manchmal zwei oder drei Jahre warten“. In Wilhelmshaven betragen die Bearbeitungszeiten in „23 Prozent der Fälle“ mehr als ein Jahr, im Baden-Württembergischen Tuttlingen „aktuell rund 12 Monate“ und im Landkreis Wittenberg „teilweise über ein Jahr“.

Rund 27 Prozent der antwortenden Sozialämter gaben an, dass Bearbeitungszeiten von über sechs Monaten bis hin zu einem Jahr dauern können. Fast 5 Prozent sagen, es könne noch länger dauern.

Wie sind diese Zahlen zu bewerten. Das wollen wir von Pflegewissenschaftlerin Tanja Segmüller wissen.

Prof. Tanja Segmüller, Hochschule Bochum:
„Die Wartezeiten sind viel zu lange. Die Menschen brauchen kurzfristig eine Versorgung und es wäre in Ordnung, wenn es wenige Wochen dauert. Aber Bearbeitungszeiten von einem halben Jahr oder bis zu einem Jahr sind unmöglich.“

Heinz Sonnenschein, Gruppenleiter Sozialamt Steglitz-Zehlendorf
Heinz Sonnenschein, Gruppenleiter Sozialamt Steglitz-Zehlendorf | Bild: SWR

Im Steglitz-Zehlendorfer Sozialamt in Berlin sind sie alltäglich. Hier arbeitet Heinz Sonnenschein. In einer Welt von Rollcontainern und Aktenbergen. Die mittlere Bearbeitungszeit hier beträgt fast ein Jahr. Und dafür gibt es Gründe. 

Heinz Sonnenschein, Gruppenleiter Sozialamt Steglitz-Zehlendorf:
„Alle Post wird in Papier zu uns geschickt. Wir drucken das aus und arbeiten alles in Papierform ab. Wir haben keine digitale Form, wir können nicht Anträge digital annehmen und wir können auch keine Konversation über Anträge führen, wie es zum Beispiel ein Serviceportal kann, wo man das machen könnte. So etwas haben wir alles nicht.“

Hinzu kämen unter anderem „hohe Mitarbeiterfluktuation“, „fehlende Unterlagen“, „zeitintensive Vermögensprüfungen“ und ein „anhaltend steigendes Antragsvolumen“. Aktuell gibt es hier 360 unbearbeitete Anträge, sagt der zuständige Bezirksstadtrat.

Tim Richter, CDU, Bezirksstadtrat Steglitz- Zehlendorf
Tim Richter, CDU, Bezirksstadtrat Steglitz- Zehlendorf | Bild: SWR

Tim Richter, CDU, Bezirksstadtrat Steglitz- Zehlendorf:
„Ich meine wir alle reden in Deutschland seit 1980 über das Thema Digitalisierung. Im Sozialamt ist es bisher nicht angekommen. Ich arbeite mit viel Kraft daran, dass wir schneller werden, dass wir digitaler werden. Ich möchte mich aber nicht aus dem Fenster lehnen, dass das morgen der Fall ist.“

Bernd Meurer dagegen sagt, er brauche schnelle Lösungen. Der Präsident des größten privaten Pflegeverbandes in Deutschland beklagt, dass viele Heime durch ausbleibende Zahlungen der Sozialämter unter Druck kämen.

Bernd Meurer, Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste:
„Eine Bearbeitungszeit von sieben, acht, neun Monaten bedeutet im konkreten Fall, dass sieben, acht, neun Monate die Gelder fehlen, um das Personal zu bezahlen und dass ich das als Einrichtungsträger vorfinanzieren muss. Das heißt, wir sind darauf angewiesen, dass wir zeitnah dann auch die Leistungen vom Sozialamt bekommen, weil wir es doch weitergeben müssen. Wir müssen am Monatsende unsere Mitarbeiter bezahlen können.“

Existenzgefährdend werde es, wenn mehrere Bewohner aus einem Heim gleichzeitig lange auf die Bewilligung des Sozialamtes warten müssten. Dann seien Einrichtungen gezwungen mit zum Teil sechsstelligen Summen in Vorleistung zu treten.

Bernd Meurer, Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste
Bernd Meurer, Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste | Bild: SWR

Bernd Meurer, Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste:
„Das Heim muss unter Umständen damit drohen oder auch eine Kündigung aussprechen, um gegenüber den Sozialämtern und auch den Angehörigen mal deutlich zu machen, es ist uns bitterernst, der Antrag muss bearbeitet werden.“

Die Pflegewissenschaftlerin kann diese Argumentation nachvollziehen, denn …

Prof. Tanja Segmüller, Hochschule Bochum
Prof. Tanja Segmüller, Hochschule Bochum | Bild: SWR

Prof. Tanja Segmüller, Hochschule Bochum:
„Der Staat muss dafür Sorge tragen, dass Menschen einen Heimplatz bekommen und den auch behalten können durch staatliche Leistung. Und wenn diese staatlichen Leistungen über Monate oder Jahre nicht gezahlt werden, dann trifft es am Ende den Pflegebedürftigen. Und der steht dann im Zweifel auf der Straße.“

Ende 2023 war laut Bundesgesundheitsministerium rund jeder Dritte Heimbewohner auf Hilfe zur Pflege angewiesen. Die neue Bundesregierung will die Zahl der Sozialhilfeempfänger reduzieren. Im Koalitionsvertrag ist von einer „Begrenzung der pflegebedingten Eigenanteile“, also niedrigerer Zuzahlungen durch Pflegebedürftige, die Rede. Ist das realistisch?

Prof. Tanja Segmüller, Hochschule Bochum:
„Tatsächlich sehe ich keine Begrenzung, sondern eher eine Ausweitung des Eigenanteils. Die Kosten in der Pflegeversicherung steigen, der Pflegebedarf in der Bevölkerung wächst, und Menschen brauchen eine Pflegeversorgung. Das bedeutet, dass auf jeden Fall weitere Einnahmen generiert werden müssen, die diese Kosten decken.“

Zurück zur Tochter in Niedersachen. Ihrem Vater wurde vom Pflegeheim wegen ausbleibender Zahlungen die Kündigung angedroht. Deshalb lässt sie sich von Experten des BIVA-Pflegeschutzbundes beraten und legt Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Mitarbeiter des Sozialamtes ein - wegen Untätigkeit.

Dienstaufsichtsbeschwerden waren auch Thema im Pflegeausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses im April 2024. Dort erklärte die für das Sozialamt zuständige Pankower Bezirksstadträtin:

Dominique Krössin, Bezirksstadträtin Pankow
Dominique Krössin, Bezirksstadträtin Pankow  | Bild: SWR

Dominique Krössin, Bezirksstadträtin Pankow, 8. April 2024:
„Immer wenn wir sozusagen gerichtliche Androhungen bekommen, bis hin zu Dienstaufsichtsbeschwerden, sozusagen sich die Klagen und Beschwerden mehren. Ab da fangen die Mitarbeiter an, sozusagen außerhalb der normalen Abläufe zu arbeiten, sondern greifen sich die Akte, blättern die Akte auf, versuchen sie abzuarbeiten, weil wenn wir ins Verfahren gehen, die Arbeit noch viel größer ist.“

Wie durch ein Wunder wird ihrem Vater rund vier Wochen nach der Dienstaufsichtsbeschwerde „Hilfe zur Pflege“ doch noch bewilligt. Fast ein Jahr dauerte die Bearbeitung. Offene Heimrechnungen von rund 10.000 Euro können jetzt bezahlt werden. Die Tochter ist erleichtert. Viele andere Betroffene aber müssen weiter warten.

Stand: 21.05.2025 15:38 Uhr