SENDETERMIN Di., 23.08.22 | 21:45 Uhr

Defekte Bahnschwellen, mangelhafte Infrastruktur: Wie gefährlich ist Bahnfahren?

Kaum ein Zug ist noch pünktlich, viele fallen ganz aus, der Fahrplan ist auf vielen Strecken komplett aus dem Takt. Fast 50 Bahnstrecken sind komplett für den Zugverkehr gesperrt. Insider aus dem DB-Konzern berichten, der Grund seien massive Schäden an Gleisen und maroden Spannbetonschwellen. Die Infrastruktur sei in einem katastrophalen Zustand, manche finden das mittlerweile gefährlich. Es bestehe die Gefahr, dass weitere Züge entgleisen.

Wie gefährlich ist Bahnfahren?

Vor ein paar Tagen am Bahnsteig im bayerischen Schliersee: Menschenmassen drängen in die kleine Regionalbahn.

Wir sind mit Lokführer Milan verabredet, er nimmt uns mit auf dem Weg nach Bayrischzell. Kaum ein Zug ist hier noch pünktlich, viele fallen aus, erzählt er uns:

Milan Chrt, Lokführer Bayerische Regionalbahn:
"Unser Fahrplan ist ehrlich gesagt Katastrophe, weil, wie gesagt, wir haben keine Möglichkeit, irgendwo zu kreuzen. Und wenn wir durch diese Langsamfahrstellen jetzt immer mehr und mehr Zeit verlieren, so beeinflusst das das gesamte Netz."

Immer wieder muss er abbremsen, darf nur 20 Kilometer pro Stunde fahren.

Milan Chrt, Lokführer Bayerische Regionalbahn:
"Die nächsten 20er ist wieder neu."

Wir kommen nur im Schneckentempo voran. Der Grund sind viele Baustellen:

Milan Chrt, Lokführer Bayerische Regionalbahn:
"Ich glaube das hängt auch mit dem Zugunglück in der Nähe von Garmisch zusammen."

Seit dem Unfall gibt es auf vielen Strecken bundesweit massive Behinderungen. Woran liegt das?

Wir sprechen mit zahlreichen Insidern, Mitarbeitern der Bahn. Sie wollen alle nicht erkannt werden, haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.

Täglich neue Meldungen über Gleisschäden

Einer arbeitet in einer großen Leitstelle. Auf seinen Monitoren hat er weite Teile des Schienennetzes in Deutschland im Blick. Meldungen über Beschädigungen an den Gleisen hätten sprunghaft zugenommen, erzählt er uns:

Mitarbeiter der Deutschen Bahn (anonym, nachgesprochen):
"Vor ein paar Jahren war das noch die absolute Ausnahme. Jetzt werden uns in der Leitstelle sechs bis sieben Mal pro Tag von Lokführern und anderen Mitarbeitern Schäden am Gleis gemeldet."

Als Beleg zeigt es uns Auszüge aus einem bahninternen Chat. Immer wieder ist darin von Gleislagefehlern, Gleisverwerfungen die Rede. Dann übergibt er uns eine interne Liste der gemeldeten Gleislagefehler und Oberbaumängel, dabei geht es zum Beispiel um defekte Schwellen oder verbogene Schienen, alle aus dem Juli 2022 in Bayern.

Mitarbeiter der Deutschen Bahn (anonym, nachgesprochen):
"Jede dieser Meldungen hat ein Gefahrenpotenzial. Bahnfahren ist deutlich gefährlicher geworden, weil eben die Gefahr besteht, dass ein Zug entgleist."

Bahnfahren wird immer gefährlicher

Ein Bahnmitarbeiter, der Bahnfahren mittlerweile gefährlich findet - bemerkenswert!

Wir zeigen die Dokumente Prof. Markus Hecht. Er hat zu Gleislagefehlern geforscht. Seine Einschätzung:

Prof. Markus Hecht
Prof. Markus Hecht | Bild: SWR

Prof. Markus Hecht, Bahnexperte TU Berlin:
"Das Schlimme bei Verwerfungen ist, das tritt meistens während der Überfahrt auf. Also die ersten Wagen kommen noch drüber, und dann irgendwo zwischendrin knickt das Gleis seitlich aus und deshalb sah es ja in Garmisch auch sehr nach einer Verwerfung aus."

Sonderinspektion maroder Spannbetonschwellen

Noch sind die Ermittlungen zum Zugunglück in Garmisch nicht abgeschlossen. Doch im Fokus stehen Schäden am Gleis durch vorgeschädigte Betonschwellen.

Wir bekommen ein internes Dokument der DB Netz zugespielt. Die Bahn fordert ihre Mitarbeiter darin auf "Spannbetongleisschwellen des Werkes Moll Laußig" zusätzlich zu inspizieren. Es gebe den Verdacht, dass Risse, die bisher als ungefährlich galten, nun doch gefährlicher sein könnten.

Wir können mit einem DB-Ingenieur sprechen, der so eine Schwelleninspektion durchgeführt hat. Auch er möchte nicht erkannt werden:

Ingenieur der Deutschen Bahn (anonym, nachgesprochen):
"Um die Schwellen genauer zu prüfen, haben wir den Schotter weggemacht. Dann hat man erst gesehen, wie stark die gerissen waren. Also ich hatte Schwellen, die waren komplett gebrochen. Ich dachte: Ojemine. Ich habe das gleiche im Gleis wie in Garmisch. Daraufhin habe ich dann sofort die Strecke gesperrt."

Unsere Nachfrage bei der Bahn ergibt: Bundesweit sind aufgrund dieser Sonderinspektion 47 Bahnstrecken komplett gesperrt. Außerdem gibt es deshalb 118 Langsamfahrstellen.

An mehreren Bahnstrecken finden wir ausgebaute Betonschwellen. In Bayern, aber auch hier, in der Nähe von Stuttgart. Viele sind zerbrochen, extrem beschädigt.

Für Prof. Markus Hecht steht fest: Defekte Schwellen sind ein Risiko.

Prof. Markus Hecht, Bahnexperte TU Berlin:
"Wenn die Schwelle hier gebrochen ist, dann kann sie eben die Querkraft nicht mehr in der Weise übertragen. Also das ist dann ein fortschreitender Schaden, sodass sie dann auch ganz auseinanderbricht."

Monika Anthes, Autorin:
"Wenn es jetzt den Unfall nicht gegeben hätte und keiner hätte diese Sonderinspektion jetzt gemacht...?"

Prof. Markus Hecht, Bahnexperte TU Berlin:
"...dann wäre an anderer Stelle ein Unfall passiert. Das wäre ziemlich sicher."

Ein schwerwiegender Verdacht.

Bahn vermutet einen Materialfehler

Wir bitten die Bahn um ein Interview, fragen nach den Ursachen und dem möglichen Schaden. Das Unternehmen erklärt:

Deutsche Bahn:
"Vorläufige Erkenntnisse aus technischen Gutachten (...) legen den Verdacht nahe, dass ein Herstellerfehler vorliegt: Die Schwellen weisen teilweise Unregelmäßigkeiten in der Materialbeschaffenheit auf."

Zum möglichen Schaden heißt es:

Deutsche Bahn:
"Die DB geht von einem dreistelligen Millionenbetrag aus. Mögliche Regressansprüche gegenüber dem Schwellenhersteller werden (...) juristisch geprüft."

Im Internet stoßen wir auf ein aufwendig produziertes Imagevideo des Betonschwellenherstellers Leonhard Moll. Hier präsentiert sich die Firma als Hightech-Unternehmen. Auf unsere Nachfrage, erklärt Moll, man sei über die Untersuchungen informiert und werde alles tun, um zur Aufklärung beizutragen.

Liegt die Schuld nur bei diesem Hersteller? Viele Mitarbeiter glauben, damit macht es sich die Bahn zu leicht. Sie habe die Infrastruktur über Jahre kaputtgespart.

Was sagt der Bundesverkehrsminister dazu. Volker Wissing hatte doch die Bahn zur Chefsache gemacht. Sehr gerne hätten wir mit ihm dazu ein Interview geführt, doch das lehnt er ab. Aus dem Ministerium heißt es: Er übernehme ab sofort mehr Verantwortung, wolle die Bahn stärker steuern.

Marode Schwellen, defekte Gleise: Unser Schienennetz ist in einem katastrophalen Zustand. Die Sanierung wird Jahre dauern. Bis dahin brauchen wir alle vor allem eines - viel Geduld!

Stand: 24.8.2022, 11.27 Uhr

Autorin: Monika Anthes
Kamera: Daniel Meier, Raphael Schmitt, Ole Flashaar
Schnitt: Inge Maric

Stand: 08.02.2023 15:27 Uhr

Sendetermin

Di., 23.08.22 | 21:45 Uhr