SENDETERMIN Di., 25.10.22 | 21:45 Uhr

Humanitäre Hilfe oder Menschenschmuggel? Deutsche Fluchthelfer an den EU-Außengrenzen

Eine Gruppe Fluchthelfer bringt Flüchtlinge ohne finanzielle Gegenleistung von der Balkanroute bis nach Deutschland. Professionelle Schleuser nehmen dafür mehrere tausend Euro. In vielen EU-Staaten gilt die unentgeltliche Hilfe trotzdem als organisierte Schleusung. Den Helfern könnte eine mehrjährige Haftstrafe drohen.

Deutsche Fluchthelfer an den EU-Außengrenzen

Unterwegs mit einer Gruppe von Fluchthelfern aus Deutschland an der kroatisch-slowenischen Grenze. Die Helfer erwarten hier eine sechsköpfige kurdische Familie, um sie nach Deutschland zu bringen. Diese ist bereits seit mehreren Tagen unterwegs. Die Helfer wollen anonym bleiben, sie könnten für diese Aktion im Gefängnis landen. Bis nach Deutschland muss die Gruppe gemeinsam vier gut gesicherte Grenzen überwinden. Werden sie es schaffen?

Eine Woche zuvor irgendwo in Deutschland. Die Gruppe von Fluchthelfern bereitet eine neue Aktion vor. Schon sechsmal haben sie Menschen bis nach Deutschland gebracht. Humanitäre Hilfe oder illegale Schleusung? Illegale Schleusung kann mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Warum riskieren sie ihre Freiheit für die Freiheit anderer?

Sophie, Fluchthelferin (anonym):
"Wir machen das aus Überzeugung. Wir glauben an Bewegungsfreiheit für alle. Wir glauben an Menschenrechte. Und das sehe ich als strukturell verletzt an europäischen Außengrenzen."

Die Gruppe der Fluchthelfer wurde aufmerksam auf eine kurdische Familie, die in einem Flüchtlingslager in Bosnien-Herzegowina gestrandet ist.

Sechs Jahre Flüchtlingscamp

Wir besuchen die Familie. Die 36-jährige Mutter erzählt, dass sie seit Wochen in diesem Wohncontainer lebe. Vor sechs Jahren habe die Familie den Irak aus Armut und wegen der Gewalt verlassen. Sie schafften es über die Türkei bis nach Griechenland, landeten in den Lagern auf der Insel Lesbos. Dort seien zwei ihrer Kinder geboren.

Hana, Mutter (übersetzt):
"Es gibt jede Nacht und jeden Tag Auseinandersetzungen. Es gibt kein Essen, es gibt keine Jobs, kein Geld. Es gibt nichts. Nachdem ich mit meinem Mann gesprochen habe, war klar: Wir gehen besser. Hier ist es nicht gut."

Die Mutter erzählt uns, sie habe mehrere Asylanträge auf Lesbos gestellt - ohne Erfolg. Dann sei die Familie weiter nach Athen geflüchtet, von dort über die Balkanroute bis nach Sarajevo.

Diese Odyssee ist kein Einzelfall, bestätigt der Jurist Maximilian Pichl, der sich seit Jahren mit den Rechtsbrüchen an den europäischen Außengrenzen beschäftigt.

Maximilian Pichl
x | Bild: SWR

Maximilian Pichl, Jurist und Politikwissenschaftler, Universität Kassel:
"Viele Menschen, die sich auf der Balkanroute befinden, waren jahrelang in Griechenland. Und für sie gab es keine politische und rechtsstaatliche Lösung. Und viele Menschen bewegen sich jetzt fort, weil sie für sich eben keine Perspektive sehen. Und die Europäische Union hätte da, auch nach dem europäischen Recht, die Verantwortung übernehmen müssen, für diese Menschen auch eine Lösung zu finden."

Festung Europa

Vergangenen Mittwoch. Die Fluchthelfer aus Deutschland telefonieren mit der Mutter im Lager in Bosnien-Herzegowina. Nun erfährt sie genaue Treffpunkte und Uhrzeiten für den illegalen Grenzübertritt nach Kroatien.

Am nächsten Morgen verlassen sie die Flüchtlingsunterkunft.

Danach reisen sie weiter von Sarajevo in eine Stadt nahe der kroatischen Grenze. Dort sind sie mit den Fluchthelfern aus Deutschland verabredet. Am Nachmittag treffen wir die Sechs in einer Grenzstadt wieder. Die Mutter hat Angst vor dem Übertritt nach Kroatien.

Hana, Mutter (übersetzt):
"Sehr, sehr viele Probleme, weil die kroatische Polizei uns das Geld wegnimmt, die Telefone kaputt macht, sie schnappen einen. Ich weine sehr, sehr viel. Ich bin sehr gestresst."

Die kroatisch-bosnische Grenze gilt als gefährliches Gebiet für Geflüchtete - seit Jahren bekannt für brutale illegale Zurückweisungen durch die kroatischen Sicherheitsbehörden, sogenannte Pushbacks, erklärt Maximilian Pichl:

Maximilian Pichl, Jurist und Politikwissenschaftler, Universität Kassel:
"An der bosnisch-kroatischen Grenze sehen wir, wie Gewalt zum Alltag geworden ist. Also Pushbacks werden gewalttätig durchgeführt, Menschen werden traktiert, ihnen werden Wertgegenstände abgenommen. Minderjährige sind auch betroffen von solchen Fällen. All das spricht nicht dafür, dass hier in irgendeiner Art und Weise ein rechtsstaatliches Verfahren überhaupt beabsichtigt wird."

2021 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Kroatien wegen einer illegalen Zurückweisung einer Familie an der Grenze. Auch die kurdische Familie hätte nach einem Pushback nach Bosnien keine Chance einen Asylantrag in der EU zu stellen. Deshalb fahren die Fluchthelfer in die bosnische Grenzregion, um der Familie zu helfen.

Letzte Lagebesprechung. Nichts darf mehr schief gehen. Noch nie wurden sie bei ihren Aktionen aufgegriffen. Doch würden sie nun mit der Familie im Grenzgebiet festgenommen, müssten sie mit Haftstrafen rechnen. Sie gehen ein großes Risiko ein.

Tom, Fluchthelfer (anonym):
"Es kann natürlich immer passieren, dass dort Kontrollen sind und die Leute gepushbackt werden. Das ist gefährlich. Dann müssen die Leute zurück und man weiß nicht, was passiert. Uns kann strafrechtlich was passieren, wenn uns unterstellt wird, dass wir die Leute schmuggeln möchten."

Humanitäre Fluchthilfe oder profitorientierte Schleusung?

Dann geht es los. Die Familie wird an die kroatische Grenze gebracht. Die Helfer nehmen dafür kein Geld - im Gegensatz zu professionellen Schleusern. Die verlangen bis zu 1.500 Euro pro Grenze. In vielen EU-Staaten gilt auch die unentgeltliche Fluchthilfe als organisierter Menschenschmuggel.

Am Abend erreicht die Familie die Grenze zu Kroatien und steht nun vor einer Herausforderung: Ohne Begleitung durch die Fluchthelfer müssen sie bei Dunkelheit über die gut bewachte Grenze nach Kroatien laufen. Auch für die Fluchthelfer ist es nun eine angespannte Situation:

Tom, Fluchthelfer (anonym):
"Du verabschiedest dich schon mal von der Familie und schickst sie ins Ungewisse. Es kann sein, dass du sie gleich nicht wiedersehen wirst. Auf der kroatischen Seite hatte ich dann tatsächlich auch Angst. Dann habe ich festgestellt, dass auch kurz meine Beine gezittert haben. Du sagst dir: Im Zweifel sitzt du in 20 Minuten in einem Polizeiwagen."

Die erste Etappe, von der bosnischen Grenzregion bis nach Kroatien, hat die Gruppe ohne Probleme überwunden. In den Morgenstunden erreicht die Autokolonne ein Waldgebiet an der kroatisch-slowenischen Grenze. Hier soll der nächste illegale Grenzübertritt stattfinden. Die Gruppe macht sich auf den Weg in die slowenischen Berge. Eigentlich sollte die Familie diesen Abschnitt allein gehen, doch ihre Telefone streiken, deshalb begleitet sie ein Fluchthelfer über die Grenze.

Ist die unentgeltliche humanitäre Fluchthilfe juristisch gleichzusetzen mit professionellen Schleusungen? Wir fragen den Strafrechtler Andreas Schloenhardt. Er sagt: ja.

Andreas Schloenhardt, Strafrechtler, Universität Wien:
"Das heißt, wenn man jemanden aus Mitleid, aus Gefallen, unentgeltlich hilft, ins Land einzureisen, auch durch das Land durchzureisen, gegebenenfalls auszureisen, ist das bereits eine Straftat."

Andreas Schloenhardt berät die Vereinten Nationen in Migrationsfragen und kritisiert diese Gleichbehandlung.

Andreas Schloenhardt, Strafrechtler, Universität Wien:
"Eigentlich ist es ja die Aufgabe des Staates, zu sagen: Wie regelt man die Einreise, wie führe ich vernünftig und rasch Asylverfahren fair und transparent durch? Und da haben ja viele Länder Europas und die EU als Ganzes eigentlich versagt. Und darum blüht dieser Schlepper-Markt. Aber für diese Form der Fluchthilfe halte ich es für äußerst fragwürdig, gerade im europäischen Raum und aufgrund unserer Werte, zu sagen: Da ist das Strafrecht das richtige Mittel. Und als Strafrechtler selbst sage ich dazu: Nein, das ist es nicht."

Auch die slowenische Grenze konnte die Familie überwinden. Die Helfer bringen sie an einen sicheren Ort, wo sie eine mehrtägige Pause machen, bevor es weitergehen soll, nach Deutschland. Am vergangenen Samstag schicken sie uns diese Fotos. Mittlerweile sind sie sicher in Deutschland angekommen. Nun beginnt die nächste Etappe für sie: das Asylverfahren.

Stand: 26.10.2022, 15.29 Uhr

Autoren: Florian Barth, Ahmet Senyurt
Kamera: Florian Barth, Mark Michel, Ahmet Senyurt
Schnitt: Roland Roßner

Stand: 08.02.2023 15:27 Uhr

Sendetermin

Di., 25.10.22 | 21:45 Uhr