SENDETERMIN Di., 07.06.22 | 21:45 Uhr

Kirche adieu: Warum Gläubige austreten

Ein großer Teil der KatholikInnen ist einer Umfrage zufolge in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz aus der Kirche ausgetreten, weil sie die Institution nicht mehr finanziell unterstützen wollen. Das ist das Zwischenergebnis einer insgesamt drei Monate dauernden SWR-Datenanalyse, über die REPORT MAINZ berichtet.

Raphael Hildebrandt aus dem baden-württembergischen Oberharmersbach ist vor Jahren aus der Kirche ausgetreten.

Raphael Hildebrandt
Raphael Hildebrandt | Bild: SWR

Raphael Hildebrandt, Missbrauchsopfer:
"Es war kein leichter Schritt, da ich ja sehr christlich eingestellt bin und ich immer gerne in die Kirche gegangen bin. Ich habe mir das lange überlegt, aber der innere Zwang war so groß, dass ich mir gesagt habe: Mensch, das musst du jetzt machen. Und mir ging es nachher viel, viel besser."

Er war früher einmal Messdiener. Schon 2011 berichtete REPORT MAINZ über seinen Fall. Acht Jahre lang sei er über 400-mal vom damaligen Ortspfarrer missbraucht worden.

Raphael Hildebrandt, Missbrauchsopfer (6.6.2011):
"Ich sehe ihn vor mir, wie er sich an mir vergeht und immer noch mit dem Gefühl: ‚Junge, du hast keine Chance gegen mich überhaupt etwas auszumachen.‘ Also ich habe das Gefühl, dass ich ihm ausgeliefert bin."

Wirklich verarbeitet hat er das bis heute nicht. Zusammen mit seiner Schwester, Dominika Hättig, besucht er das Grab der 2019 verstorbenen, strenggläubigen Mutter. Obwohl neben Raphael auch der zweite Sohn vom Ortspfarrer missbraucht wurde, hielt sie als Mesnerin der Institution Kirche bis zu ihrem Tod die Treue und organisierte Gottesdienste.

Raphael Hildebrandt, Missbrauchsopfer:
"Für meine Mutter wäre niemals in Frage gekommen, dass sie aus der Kirche austritt, obwohl ich mehrere Male, wie gesagt, mehrere 100 Male, sexuell missbraucht worden bin."

Für gläubige Schwester kam Kirchenaustritt lange nicht in Frage

Und so prägte die Mutter auch das Leben ihrer Kinder. Für Dominika Hättig kam ein Kirchenaustritt daher viele Jahre lang nicht in Frage.

Dominika Hättig
Dominika Hättig | Bild: SWR

Dominika Hättig:
"Ich denke, das ist wie so ein Tattoo. So eine Glaubenserziehung, die steckt fest. Und dann dauert es ziemlich lange, bis man mit sich selbst im Reinen ist. Irgendwann war der Topf voll und es war für mich dann klar: Jetzt muss ich raus, weil jetzt ist es nicht mehr auszuhalten."

Frage:
"Aber das war erst nach dem Tod Ihrer Mutter?"

Dominika Hättig:
"Ja, das war erst nach dem Tod meiner Mutter, weil ich denke, durch ihr Amt als Mesnerin und auch durch die Erziehung war es schon eine Hemmschwelle für mich, dass ich ihr das nicht zumuten wollte noch, dass, außer meinen Brüdern, ich dann auch noch austrete. Also, da habe ich mich schon gescheut."

Erst im November 2020, 23 Jahre nach ihrem Bruder, zieht sie den Schlussstrich. Für die Beamtin, die sonst selbst auch Kirchenaustritte bearbeitet, letztlich nur noch ein Verwaltungsakt.

Dominika Hättig:
"Das war eines Morgens, habe ich 25 Euro aus meinem Portemonnaie gezogen, bin zu meiner Kollegin ins Büro und habe gesagt: 'Bitte bereite es vor, ich komme in zehn Minuten, ich möchte aus der Kirche austreten.'"

Menschen verlassen scharenweise die katholische Kirche

Zwischen 2017 und 2020 sind fast 900.000 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten. Eine beunruhigende Zahl, auch für den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing.

Georg Bätzing, Vorsitzender Deutsche Bischofskonferenz (27.5.2022):
"Wir haben große Probleme, wir sind in einem Riesenumbruch. Es gibt auch einen Abbruch von Kirchenverbundenheit."

Und das Problem könnte schnell noch größer werden. Auf dem Katholikentag in Stuttgart denken viele Gläubige laut über einen Kirchenaustritt nach.

Besucherin des 102. Deutschen Katholikentags:
"Für mich ist ein großes Thema die Situation der Frau in der Kirche. Ich kann nicht verstehen, warum diese Kirche 50 Prozent ihrer Mitglieder von Ämtern ausschließt. Ich bin eine Frau. Also für mich ist das eine existenzielle Frage und manchmal weiß ich wirklich nicht, warum ich noch Mitglied bin."

Besucherin des 102. Deutschen Katholikentags:
"Ich finde, dass Menschen, die gerade schwul oder lesbisch oder anderswertig sind und in dem Fall nicht hetero, aus der Kirche ausgeschlossen werden."

Besucherin des 102. Deutschen Katholikentags:
"Man muss sich schon Gedanken machen, ob man noch dahinter stehen kann hinter diesem Konzept, hinter diesen veralteten Hierarchiestrukturen der katholischen Kirche und ob man die auch durch aktive Mitarbeit noch weiter unterstützen will."

Der Frankfurter Stadtdekan, Johannes zu Eltz, nimmt diese Entwicklung sehr ernst. Auch seine Gemeinde wird von Jahr zu Jahr kleiner. Deshalb schreibt er Briefe an Menschen, die aus der katholischen Kirche ausgetreten sind. 2021 waren es rund 800.

Johannes zu Eltz
Johannes zu Eltz | Bild: SWR

Johannes zu Eltz, Stadtdekan Frankfurt am Main:
"Und das steht auch in meinem Brief dann drin: Ich bitte Sie, gleichsam als letzten Dienst an die Kirche, die Sie jetzt verlassen, dass Sie uns sagen, warum Sie gegangen sind. Vielleicht oder wahrscheinlich können wir davon lernen."

Auch gläubige Menschen verlassen die katholische Kirche

Warum treten Menschen aus der katholischen Kirche aus? Dieser Frage gehen die SWR-Datenjournalisten in einer insgesamt drei Monate dauernden, nicht-repräsentativen Untersuchung nach.

Wer aus der Kirche austreten will, macht das beim zuständigen Standesamt. Direkt nach dem Verwaltungsakt wurden den Austretenden in mehreren Behörden in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg Fragebögen übergeben. Darin konnten sie ihre Austrittsgründe anonym mitteilen. Noch ist die Befragung nicht abgeschlossen, bislang aber haben bereits 190 ausgetretene KatholikInnen die Fragen vollständig beantwortet.

Zwischenergebnis: Die Missbrauchsfälle und der Umgang damit waren für 90 Prozent der Antwortenden der Auslöser für ihren Kirchenaustritt. Für 55,2 Prozent der Teilnehmer ist es wichtig, auch ohne Kirche religiös sein zu können. Neun von zehn sind ausgetreten, weil sie die Institution Kirche nicht mehr finanziell unterstützen oder sogar bestrafen wollen. Der Austritt erfolgt aber in über 80 Prozent der Fälle (82,6 Prozent) nicht aus finanzieller Not.

Und genau so ein Fall ist Dominika Hättig. Sie bezeichnet sich selbst als gläubig und betet fast jeden Tag:

Dominika Hättig:
"Man kann ja der Kirche im Endeffekt als normaler Mensch nur schaden, indem man ihnen die Kirchensteuer entzieht. Und das ist mit ein Grund für mich zu sagen, ich spende das Geld, ich lege es anders an, aber so, wie ich das für richtig erachte und nicht so, wie das die Kirche für richtig befindet."

Was sagen Kirchenvertreter und Wissenschaftler dazu? Wir bitten Matthias Kopp von der Deutschen Bischofskonferenz und den Religions- und Kirchensoziologen Gert Pickel um eine Einschätzung. Pickel hat an der SWR-Untersuchung zu Kirchenaustritten beratend mitgewirkt.

Prof. Gert Pickel
Prof. Gert Pickel | Bild: SWR

Prof. Gert Pickel, Religions- und Kirchensoziologe, Universität Leipzig:
"Ein Ergebnis ist auch, dass wir feststellen, dass jetzt auch Personen dazukommen, die eben auch gläubig sind. Das ist etwas, was wirklich neu ist und was man wohl sehr, sehr stark eben tatsächlich mit dem Missbrauch, auch wahrscheinlich mit der Frustration darüber, dass eben diese Anpassung an die Gegenwart, an die Moderne, das ist nämlich, was Gläubige immer wieder fordern, einfach schlicht und ergreifend nicht hergestellt wird, trotz aller Prozesse."

Matthias Kopp
Matthias Kopp | Bild: SWR

Matthias Kopp, Pressesprecher Deutsche Bischofskonferenz:
"Das beunruhigt die Bischöfe, weil sie sagen: Kirche, die Institution und der Glaube, gehören schon rein theologisch zusammen. Daran müssen wir arbeiten. Und wir hoffen mit unseren Reformprojekten, dass wir Menschen auch wieder in die Kirche zurückholen können. Sie werden nicht viel voller werden, wir werden kleiner werden. Selbstverständlichkeiten einer Volkskirche sind längst nicht mehr gegeben. Darauf müssen wir uns einstellen. Aber wir dürfen nicht darin nachlassen, dafür zu werben, dass Kirche weiterhin ein attraktiver Ort ist."

In Frankfurt versucht Johannes zu Eltz moderner zu werden. Doch auch YouTube-Videos werden die Austrittswelle aus der katholischen Kirche nicht stoppen. Die Krise sei auch hausgemacht, sagt er.

Johannes zu Eltz, Stadtdekan Frankfurt am Main:
"Es ist eine große, institutionell organisierte Angst um Bestände, die da dahintersteckt. Und die müssten wir aber nicht haben, wenn wir glauben, dass Christus der Fels ist, der mitgeht. Nicht der Fels in der Brandung, sondern der Fels, der mitgeht, auch mit dem Lauf der Zeit."

So sehen es auch die Teilnehmer der SWR-Umfrage: Fast 80 Prozent (78,4 Prozent) fordern ein konsequentes und transparentes Vorgehen gegen Missbrauchstäter. Eine Mehrheit will das Zölibat (67,4 Prozent) abschaffen und die Priester- und Bischofsweihe für Frauen (62,6 Prozent).

Themen, über die die katholische Kirche in Deutschland in ihrem Reformprozess spricht - dem so genannten synodalen Weg.

Gert Pickel, Religions- und Kirchensoziologe, Universität Leipzig:
"Das tut man auch jetzt schon, glaube ich, teilweise ganz gut und hat auch eigentlich gute Vorschläge. Das Problem ist, diese Vorschläge werden eben nicht in Deutschland entschieden zu guter Letzt. Sie werden in Rom entschieden und in Rom ist bislang die Rückmeldung eher nicht so gut."

Matthias Kopp, Pressesprecher Deutsche Bischofskonferenz:
"Wir sind immer mit Rom verbunden. Wir werden uns auch nicht von Rom trennen. Und die Frage einer zölibatären Lebensform oder einer Zulassung von Frauen zu Weiheämtern sind Themen, die in unserem Reformprojekt diskutiert werden. Und, da bin ich ziemlich sicher, als Ergebnis des Reformprojektes auch nach Rom transportiert werden."

Keine einfache Zeit für den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, denn am Erfolg der Reformen in Deutschland wird er gemessen werden.

Georg Bätzing
Georg Bätzing | Bild: SWR

Georg Bätzing, Vorsitzender Deutsche Bischofskonferenz (27.5.2022):
"Meine Überzeugung ist immer: Vertrauen kann man nicht zurückgewinnen. Wenn es verloren ist, ist es verloren. Menschen können einem nur neu Vertrauen schenken. Und das liegt daran, ob sie einem glauben, ob das, was ich tue, was wir tun, auch glaubwürdig ist."

Stand: 7.6.2022, 20.03 Uhr

Autor: Gottlob Schober
Redaktionelle Mitarbeit: Ulrich Lang
Kamera: Marc Francke, Gerhard Friedrich, Harry Karius, Patrick Steinwenden, Frieder Wiech
Schnitt: Frank Rosam

Stand: 08.02.2023 15:27 Uhr

Sendetermin

Di., 07.06.22 | 21:45 Uhr