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Zurück in den Ukraine-Krieg: Geflüchtete Frauen verlassen Deutschland

Die Sicherheitslage in der Ukraine ist prekär und unüberschaubar. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR warnt gegenüber dem ARD-Politikmagazin vor einer Rückreise zum gegenwärtigen Zeitpunkt.

Eine Flüchtlingsunterkunft in einem Kölner Industriegebiet. Hier wohnt die Ukrainerin Karyna mit ihren Schwestern, dem Neffen und ihrer Katze Mocca seit nunmehr acht Wochen. In ihrer Schlafkoje gibt es zu den anderen 150 Bewohnern nur einen Sichtschutz. Karyna packt jetzt ihre Koffer. Sie will nach Hause.

Karyna Chernichenko
Karyna Chernichenko | Bild: SWR

Karyna Chernichenko:
"Ich vermisse mein Land, meine Stadt. Ich möchte einfach nach Hause - trotz der Bombardierungen und allen anderen Gefahren. Ich möchte einfach zu Hause sein."

Zu Hause, das ist hier: Charkiw im Nordosten der Ukraine. Erst vergangene Woche wurde hier eine Schule beschossen. Lebensmittel sind knapp, ein Viertel aller Gebäude zerstört. Doch Karynas Wohnung steht noch.

Karyna Chernichenko:
"Das ist mein Haus. Nur auf einer Seite sind die Scheiben rausgeflogen. Andere Häuser sind komplett zerstört, aber wir haben noch Glück gehabt."

Schon am nächsten Morgen soll Karynas Bus in die Ukraine gehen. Ob die 28-jährige wirklich die gefährliche Reise antreten wird? Bisher scheint sie fest entschlossen.

Prekäre Sicherheitslage

Er warnt davor, jetzt schon zurückzukehren: Dimitri arbeitet für den Stadtrat in Charkiw, hilft Soldaten und Bedürftigen. Er schickt uns diese Fotos und eine eindeutige Warnung an alle Charkiwer, die geflohen sind.

Dimitri Ljahovetskij, Stadtrat Charkiw:
"Sie sollen besser noch etwas abwarten. Die Kämpfe sind noch im Gange, wir können jeden Moment unter Beschuss geraten. Es ist zu früh. Kommt nicht zurück!"

Städte wie Kiew dagegen scheinen sicher zu sein. Wir können mit Natalia telefonieren. Sie ist vor zwei Wochen aus Deutschland hierhin zurückgefahren.

Videocall Natalia Romanovska und Oksansa Vyhovska:
(Ukrainisch) "Hallo, wie geht es dir?"

Als wir sie vor vier Wochen zum ersten Mal treffen, ist sie noch in Deutschland, in Neuenburg am Rhein.

Natalia Romanovska, 11.5.2022:
"Ich habe in Kiew Arbeit, eine Aufgabe. Ich möchte, dass alles wieder wird wie früher."

Natalia entscheidet sich tatsächlich, wieder nach Kiew zu gehen.

Arbeit: Für viele eine starke Motivation für die Rückreise

Oksana Vyhovska ist Vorsitzende der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft in Freiburg, unterstützt ihre Landsleute seit Kriegsbeginn. Sie erzählt, viele Ukrainerinnen seien von ihren Arbeitgebern zur Rückkehr aufgefordert worden.

Oksana Vyhovska
Oksana Vyhovska | Bild: SWR

Oksana Vyhovska, Vorsitzende Deutsch-Ukrainische Gesellschaft Freiburg e.V.:
"Ich weiß, dass viele sind schon zurück, weil die Wirtschaft muss arbeiten und irgendwie das Staat Ukraine muss weiterleben und deswegen. Die brauchen Menschen, um weiter alles zu organisieren."

Zurück in ein Kriegsgebiet, weil sonst der Jobverlust droht? Der Migrationsforscher Franck Düvell untersucht die Lage in der Ukraine seit 15 Jahren. Was dem Land jetzt fehle, seien vor allem Arbeitnehmer, erzählt er uns.

Franck Düvell
Franck Düvell | Bild: SWR

Franck Düvell, Migrationsforscher, Universität Osnabrück:
"Aus der Sicht der Behörden und auch der Unternehmen braucht man sie eigentlich. Man braucht sie in der Nachkriegsphase, man braucht sie wieder für die Wiederaufbauphase. Man braucht sie für diese seltsame Zwischenphase."

Wir treffen Natalia in Kiew nach ihrer Rückkehr. Sie meldet sich bei ihrer Unterstützerin Oksana, erzählt ihr von ihrem neuen Leben.

Oksana Vyhovska, Vorsitzende Deutsch-Ukrainische Gesellschaft Freiburg e.V.:
"Sie hatte Angst, da zu fahren. Aber jetzt ist sie da und sagt: Kiew ist fast voll. Alle kommen zurück schon. Das Leben geht weiter. Schönes Wetter, alle lachen da. Alles gut."

Nur wenige Stunden nach dem Telefonat wird Kiew beschossen. Wir erreichen Natalia, fragen, wie es ihr jetzt geht? Sie sei verzweifelt, erzählt sie. Das habe sie überhaupt nicht erwartet.

UN-Flüchtlingsorganisation warnt gegenwärtig vor Rückkehr

Es ist schwer zu verstehen: Immer mehr Geflüchtete machen sich auf den Weg zurück in die Ukraine, schon jetzt. Chris Melzer von der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR war wochenlang an der ukrainisch-polnischen Grenze.

Chris Melzer
Chris Melzer | Bild: SWR

Chris Melzer, Pressesprecher UNHCR:
"Ich habe mit hunderten, vermutlich tausenden Flüchtlingen gesprochen. Sie haben eigentlich alle immer gesagt: 'Was glaubst du, wann können wir zurück?' Aber es gibt momentan keinen Ort in der Ukraine, von dem man wirklich sagen kann, dass er sicher ist. UNHCR kann deshalb nicht empfehlen, dieses Risiko einzugehen."

Mehr als zwei Millionen Grenzübertritte in die Ukraine zählt das UN-Flüchtlingswerk bisher. Darunter auch viele Pendler, die nur vorübergehend in die Ukraine fahren. Wie viele Menschen genau schon endgültig zurückgekehrt sind, ist schwer zu schätzen.

Mit Bus und Bahn zurück in die Ukraine

Die Routen gehen beispielsweise von Köln über Berlin, Frankfurt an der Oder nach Polen - weiter über Warschau bis zur Ukraine. Von dort fahren die Busse nach Kiew, Odessa oder Charkiw.

Auch in der Bahnhofsmission am Frankfurter Hauptbahnhof stellen die Mitarbeiter einen deutlichen Anstieg an Rückreisen fest.

Carsten Baumann
Carsten Baumann | Bild: SWR

Carsten Baumann, Leiter Bahnhofsmission Frankfurt, Diakonisches Werk:
"Die Dimension der Rückreise steigt derzeit. Wir verzeichnen im Moment 50 bis 80 Menschen, die in die Ukraine täglich zurückreisen. Wir nehmen an, dass es weiter zunimmt, sofern das Kriegsgeschehen sich nicht weiter über die Ostukraine hinaus ausbreitet."

Olga Niklas hilft hier jeden Abend nach ihrem eigentlichen Job aus. Übersetzen, Fragen beantworten, mit Formularen helfen. Sie weiß, viele Ukrainer verzweifeln an der deutschen Bürokratie.

Olga Niklas
Olga Niklas | Bild: SWR

Olga Niklas, Dolmetscherin:
"Wir haben von vielen Ukrainern gehört: Warum ist es in Deutschland so rückständig? Bei uns kann man alles elektronisch einreichen, alle Formulare, alle Papiere. Und hier muss man überall persönlich erscheinen. Das geht doch gar nicht."

Aber andere bleiben - trotz der Schwierigkeiten. Eine von ihnen ist Vira. Die Grundschullehrerin ist seit März in Deutschland. Trotz Antrag wartet sie seitdem auf finanzielle Unterstützung. Oksana Vyhovska hilft ihr mit dem Behördenwirrwarr.

Oksana Vyhovska, Vorsitzende Deutsch-Ukrainische Gesellschaft Freiburg e.V.:
"Sehr oft, fast mit jedem Brief, hat sie Stress gehabt, hat fast geweint und dann hat sofort zu uns gekommen und gesagt: 'Was ist? Was steht hier? Was wollen sie noch? Was muss ich tun?'"

Es gab viele Tage, an denen Vira ihre Koffer packen und zurückfahren wollte, erzählt sie uns. Aber sie bangt um ihre Sicherheit, möchte warten bis der Krieg vorbei ist.

Viele andere nicht. Aktuell reisen jeden Tag tausende geflüchtete Ukrainer wieder in ihre Heimat zurück - trotz der Zerstörung, trotz der Gefahr.

"Pendel-Migration": Ein neues Phänomen?

Frank Düvell, Migrationsforscher Universität Osnabrück:
"Es gibt keine Ein- und Ausreise-Beschränkung. Dadurch haben wir eine größere Dynamik zwischen den Ländern und erlaubt den Menschen auch eine größere Mobilität als in anderen Konflikten, wo auch so eine Probe-Rückkehr nicht möglich ist. Und was ich erwarte ist eigentlich ein Größeres hin und her, also mehr so eine Art Pendel-Migration."

Ob auch Karyna eines Tages wiederkommen wird? Am vergangenen Samstagmorgen jedenfalls will sie erst mal weg aus Deutschland, zurück in die Ukraine. Am Fernbusbahnhof in Köln wartet sie mit Katze Mocca auf den Bus, der sie nach Charkiw bringen soll.

Karyna Chernichenko:
"Ich denke, wir werden gut ankommen und in der Ukraine holt mich mein Mann ab. Alles wird gut."

Noch ein letztes Verabschieden mit Flüchtlingshelferin Marina. Sie wollen sich wiedersehen, versprechen sie sich. Dann fährt der Bus. Er wird sich im Laufe der Fahrt bis zum letzten Sitzplatz füllen - mit Menschen, die zurückfahren in einen Krieg und dennoch voller Hoffnung sind.

Stand: 7.6.2022, 19.40 Uhr

Autorinnen: Mona Botros, Claudia Kaffanke
Kamera: Carlo Bonsen, Hassan Gazi, Rüdiger Kortz, Enrico Mock, Harald Schlund
Schnitt: Andreas Hebenstreit

Stand: 08.02.2023 15:26 Uhr

Sendetermin

Di., 07.06.22 | 21:45 Uhr