So., 20.07.25 | 18:30 Uhr
Das Erste
Großbritannien: Missbraucht, ignoriert, instrumentalisiert – Das Ringen mit den Grooming Gangs
Jeden Morgen ist Fiona Goddard erleichtert, wenn die Nacht vorbei ist. Wenn es hell ist, kann sie kann sie besser umgehen mit dem, was ihr als junges Mädchen widerfahren ist, hier in ihrer Heimatstadt im nordenglischen Bradford. Reden möchte sie darüber nur draußen, weit genug entfernt von ihren kleinen Kindern. Sie war 13, lebte in einem Kinderheim, als ältere Männer den Kontakt zu ihr und ihren Freundinnen suchten. Bald kauften sie ihr Wodka, luden sie ein - zu sogenannten Partys. "Sie haben eine emotionale Verbindung aufgebaut, dann begann die Gehirnwäsche, die rohe Gewalt und Vergewaltigungen. Einmal kam ich zurück ins Kinderheim und Blut floss mir die Beine herunter, ich hatte Würgemale und am Rücken Prellungen. Ich sagte meinen Betreuern: Ich wurde vergewaltigt, niemand hat es gemeldet."
Fiona Goddard wurde auch in andere Städte gebracht, dort missbraucht, über Jahre hinweg, von mehr als 50 Männern. Und immer wieder auch von der Polizei aufgegriffen, erzählt sie. "Die Polizei sagte, ich sei der Grund, weshalb es mit der Gesellschaft bergab gehe, dass ich die Männer gefährde. Ich sei eine Kinder-Prostituierte, die Sex für Geschenke tausche – da war ich 16 oder 17."
Grooming Gangs: Verurteilung mehrerer Männer

Erst 2019 wurden neun der Männer verurteilt – zu Haftstrafen zwischen 18 Monaten und 20 Jahren. Grooming Gangs werden solche Banden in England genannt. Viele verurteilte Täter haben pakistanische Wurzeln. Landesweit gibt es Tausende Opfer. Die Anwältin Amy Clowrey vertritt Dutzende, auch Fiona Goddard. Die ersten Fälle liegen 30 Jahre zurück. Die Aufklärung begann spät und schleppend. "Die Mädchen wurden ignoriert und alle, die es meldeten wurden ignoriert - oder man glaubte ihnen nicht. Sie galten es Problemkinder. Und es gab einen politischen Faktor: Niemand wollte als Rassist gelten", erklärt Clowrey.
Im Dezember entfacht Elon Musk die Debatte neu: Er feuert Hunderte Posts über Grooming Gangs ab, durchzogen von Falschinformationen und Hetze. Musk beschuldigt Premier Starmer, damals noch als Generalstaatsanwalt, "Komplize" gewesen zu sein, bei der – Zitat – "Vergewaltigung Großbritanniens". Es folgen Morddrohungen gegen Politiker, Streit im Parlament. Das diskutiert in jenen Wochen gerade, ob es eine landesweite Untersuchung zu Grooming Gangs geben müsse. "Die Opposition will eine landesweite Untersuchung. Wir hatten genug Untersuchungen – und 22 klare Empfehlungen, aber Konservative Regierungen haben keine einzige umgesetzt", sagt Keir Starmer am 8. Januar 2025 im Parlament.
Mitte Juni die Kehrtwende. Ein Prüfbericht im Auftrag der Regierung urteilt: Es müsse doch eine umfassende Untersuchung geben – auch bei der Frage zur Täter-Herkunft gebe es Versäumnisse. Innenministerin Yvette Cooper dazu am 16. Juni 2025: "Informationen zur ethnischen Herkunft wurden bei zweidritteln der Grooming Gang-Täter nicht erfasst. Deshalb können wir auf nationaler Ebene keine Aussage zur Herkunft treffen. Aber: Daten zu Ermittlungen in drei Polizeibezirken zeigen, dass dort überdurchschnittlich viele Verdächtige aus der britisch-pakistanischen Community kommen." Schon jetzt steht fest: Künftig muss in allen Fällen von sexuellem Missbrauch und sexueller Ausbeutung auch die ethnische Zugehörigkeit erfasst werden.
Rechtsradikale Aktivisten nutzen Debatte
Eine Diskussion, die auch die Menschen in der Region Bradford umtreibt. Für den Wahlkreis Keighley sitzt der konservative Politiker Robbie Moore im britischen Parlament – und er tauscht sich eng mit Fiona Goddard aus. Sie kämpfen dafür, dass in der landesweiten Untersuchung, auch genau auf Fälle und Strukturen in Bradford geschaut wird. "Politiker aller Parteien, auf allen Ebenen haben sich zu lange nicht getraut, das Thema umfassend aufzuklären. Und das hat die Situation immer weiter verschärft – und gibt Extremisten die Möglichkeit das Thema zu instrumentalisieren", sagt Moore.
Und das ist längst geschehen: An einem heißen Samstag sammeln sich ein paar Tausend Menschen in einem Londoner Park. "Für die Kinder" – so ihr Motto. Und sie skandieren den Namen des wohl bekanntesten rechtsradikalen Aktivisten Englands: Tommy Robinson. Auch Verschwörungstheorien aus dessen Umfeld hatte Elon Musk verbreitet. Sie ziehen Richtung Downing Street, viele treibt der Hass auf die Regierung. "Alle, die weggesehen haben bei diesem Missbrauch, sind Kriminelle. Sie sollten alle eingesperrt werden. Und dieser Typ, unser Premierminister, der ist genauso schuldig. Kein Zweifel. Er wollte keine nationale Untersuchung. Wir haben ihn dazu gezwungen", sagt Sean Robbins. Robert Adams sagt: "Das hier ist England. Und wir zeigen, was wir von all dem halten! Es ist Zeit, dass wir endlich für uns einstehen."
Zurück in Nordengland: In Rotherham leitet die Sozialarbeiterin Jayne Senior ein Zentrum für Opfer von sexueller Gewalt. Ende der Neunziger gehörte sie zu den Whistleblowern der ersten Stunde. "Ich gucke mir das alles an und denke: Wie kann Kindesmissbrauch ein politisches Schlachtfeld sein? Und sexuelle Ausbeutung und Grooming Gangs gibt immer noch – heute beginnt das oft online, das sehen wir landesweit. Gleichzeitig fehlt es überall am nötigen Geld zum Beispiel für Therapie, und Sozialarbeit."
Im nahen Bradford postet Fiona Goddard seit einigen Wochen auf Tiktok, um zu warnen, aufzuklären. Diese Offenheit hilft ihr. An guten Tagen setzt sie große Hoffnung in die öffentliche Untersuchung. An schlechten Tagen ist sie überzeugt, dass sie Behörden und Politik sowieso nie wieder vertrauen kann.
Autorin: Mareike Aden, ARD-Studio London
Stand: 20.07.2025 22:42 Uhr
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