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Ukraine: Der tödliche Verrat von Hrosa

PlayGräber auf einem Friedhof
Ukraine: Der tödliche Verrat von Hrosa | Bild: ARD Kyiv/Dmytro Fedulov

Auf diesem Friedhof sind Menschen begraben, die vor sechs Wochen noch gelebt haben. Männer, Frauen und ein Kind. Am 5. Oktober standen sie am Grab von Andrij Kosyr. Ein Soldat aus ihrem Dorf Hrosa, dem sie die letzte Ehre erweisen wollten. Für 59 von ihnen wurde der 5. Oktober zu ihrem Todesdatum. Um 13:25 Uhr schlägt eine russische Iskander-Rakete in Hrosa ein. Die Trauergemeinschaft hat sich gerade in einem Café versammelt. Zum gemeinsamen Gedenken. Dass ihr Leben so enden sollte, konnte hier niemand ahnen. "Ich komme raus und sehe diese ganzen Leichen vor meinen Augen. Ich war da bis zum Schluss, ich habe nach meinen Nachbarn gesucht, aber ich konnte sie nicht finden. Ihre Verwandten waren nicht da, also habe ich nach Natascha und Tolik gesucht. Es war unmöglich, sie zu identifizieren, sie waren alle verbrannt", erinnert sich Dorfbewohnerin Valentyna Kosijenko.

Kosijenko wohnt direkt gegenüber. Die Druckwelle hat Fenster rausgerissen und den Zaun zerstört. Valentyna wollte ihn so schnell wie möglich wieder aufbauen. Um das zerstörte Café nicht zu sehen, nicht an die toten Körper zu denken. Von der Regierung bekommt sie kaum Hilfe, die Arbeiten bezahlt sie von ihrer kleinen Rente. Dass Russland ihr armes Dorf mit einer hochpräzisen Rakete im Wert von mehreren Millionen Euro beschießt, kann Valentyna bis heute nicht begreifen. "So eine teure Rakete und sie hat einfach Menschen getötet. Zivilisten. Es waren keine Soldaten dort, alle Menschen waren Zivilisten, alles Dorfbewohner, die wir kannten, mit denen wir befreundet waren. Ich weiß nicht, warum sie das getan haben."

Kollaboration mit Russland

Eine ältere Frau mit Tränen in den Augen.
Dorfbewohnerin Valentyna Kosijenko trauert um die getöteten Dorfbewohner. | Bild: ARD Kyiv/Dmytro Fedulov

In Hrosa wurden mit dieser Rakete so viele Zivilisten getötet, wie bei kaum einem anderen Angriff im gesamten Krieg. Im Gegensatz zu anderen Kriegsverbrechen in der Ukraine leugnet Russland diesen Angriff nicht. Stattdessen: Rechtfertigungen, wir vor den Vereinten Nationen. "Wie wir wissen, fand zum Zeitpunkt des Einschlags die Beerdigung eines hochrangigen ukrainischen Nationalisten statt. Natürlich nahmen viele seiner neo-nazistischen Komplizen daran teil. Es ist kein Zufall, dass auf den Bildern, die nach dem Einschlag gepostet wurden, fast alle Toten, Männer im wehrpflichtigen Alter sind", erklärt Vassili Nebensja, UNO-Botschafter Russlands.

Diese Aussage ist nachweislich falsch. Alle Toten konnten von den Behörden identifiziert werden. 36 Frauen und 23 Männer, darunter ein achtjähriger Junge. Ganze Familien, die schon immer in Hrosa gelebt haben. "Acht meiner engen Verwandten sind ums Leben gekommen, Freunde. Die ganze Elite des Dorfes. Die Leute, die das Dorf geprägt haben. Die fortschrittlichen Leute, sie sind alle ums Leben gekommen", sagt Dorfbewohner Ivan Chodak. Chodak war am 5. Oktober selbst auf dem Friedhof. Der Soldat, der an diesem Tag beerdigt wurde, war sein Neffe. Ivan lebt nur deshalb noch, weil er nicht zum Gedenken in das Café ging, sondern zurück zu seinen Tieren. Den Einschlag spürt er noch auf seinem Hof. Ivan ist erschüttert. Über den brutalen Raketenangriff. Und darüber, wie es zu diesem Angriff kam:

Zwei Brüder, Ukrainer, die selbst aus Hrosa stammen, sollen die Bewohner ihres Heimatdorfes ausgekundschaftet haben, im Auftrag Russlands. "Ich hätte nie gedacht, dass unser Dorf solche Idioten hervorbringen kann. Idioten ist nicht das richtige Wort, das sind nicht einmal Verbrecher. Das sind verdammte Terroristen. Auf ihr Heimatdorf, auf ihre Verwandten. Sie hatten Familie, Freunde und Klassenkameraden dort. Und sie haben eine Rakete auf sie gerichtet, um sie zu töten. Ich kann das nicht begreifen", sagt Chodak.

Er spricht von Verrat, die ukrainische Staatsanwaltschaft von Kollaboration – und ermittelt gegen diese zwei Männer. Sie waren ukrainische Polizisten. Als Hrosa 2022 über Monate russisch besetzt war, hätten die Brüder die Seiten gewechselt und mit den russischen Besatzern kooperiert. Dann sollen sie sich nach Russland abgesetzt haben. “Sie haben mit den Dorfbewohnern kommuniziert und Informationen an ihre Kontakte im russischen Geheimdienst FSB weitergegeben, um den Raketenangriff zu starten", sagt Dmytro Tschubenko, Sprecher der Staatsanwaltschaft in Charkiw.

Doch warum informierten Dorfbewohner die beiden Männer praktisch in Echtzeit über den Standort der Trauergemeinschaft? Dorfbewohner, die selbst noch mit ihren Lieben in Hrosa waren. "Das sind einfache Menschen. Aufgrund ihres mangelnden Wissens und dem fehlenden Verständnis dafür, wozu dies führen könnte, haben sie Informationen weitergegeben, die weder ein Staatsgeheimnis noch eine Verschlusssache darstellten", sagt Tschubenko.

Menschen kollaborieren aus Not oder Überzeugung

Hier handelten sie wohl aus Naivität. Anderswo kollaborieren sie aus Not oder Überzeugung – die Gründe sind vielfältig. Das Thema ist ein schmerzhaftes in der Ukraine. Rund 2.000 Strafverfahren laufen allein in der Region Charkiw. Beweise zu sammeln ist kompliziert. Die Taten liegen Monate zurück. Einige kollaborierten aufgrund ihrer prorussischen Ansichten. Andere, weil ihnen Enteignung oder Folter angedroht wurden. Umstände, die auch die Politik vor große Herausforderungen stellen. Serhij Ionuschas ist im ukrainischen Parlament Vorsitzender im Ausschuss für Strafverfolgung. Alle Gesetzentwürfe gehen über seinen Schreibtisch: "Als Gesetzgeber verstehen wir sehr gut, dass einige unserer Bürger leider aus humanitären oder anderen Gründen gezwungen waren, bestimmte Handlungen unter Zwang vorzunehmen. Aber ich möchte betonen, dass jeder einzelne Fall gesondert betrachtet werden muss, und das ist die Aufgabe unseres Strafverfolgungssystems."

Hrosa war mal ein lebensfrohes kleines Dorf, erzählen uns die Bewohner. Dann kamen russische Soldaten, die Besatzung und gegenseitiges Misstrauen. Mit dem Raketeneinschlag ist Hrosa trist geworden. Zu viele Leben wurden dem kleinen Ort genommen. 59 Menschen mit dem gleichen Todesdatum. Weil sich andere Dorfbewohner, einstige Freunde, für die russische Seite entschieden haben, für den Weg der Kollaboration.

Autor: Vassili Golod, ARD-Studio Kiew

Stand: 12.11.2023 20:22 Uhr

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