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RUSSLAND: Die Rache Putins

Repressalien gegen Oppositionelle

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RUSSLAND - Die Rache Putins | Bild: BR

Sechster Juni, Haftprüfungstermin. Von den zwölf Angeklagten sitzen zehn schon über ein Jahr in Untersuchungshaft. Auch heute werden sie ihre Freunde und Eltern nicht sehen: Geschlossene Sitzung. Einigen drohen bis zu zehn Jahren Haft: "Aufruf zu Massenunruhen", "gewaltsamer Widerstand gegen die Staatsgewalt" heißt die Anklage. Auch die Medien müssen draußen bleiben.

Natalia Kawkaski
Natalia Kawkaski | Bild: BR

Vor dem Moskauer Stadtgericht warten Angehörige und Unterstützer, ohne allzu große Hoffnung: "Politische Gefangene freilassen" steht da. Gefilmt wird auf beiden Seiten, von der Polizei und den Medien. Natalia Kawkaski hat auch einen Sohn da drinnen. Um Politik hat sie sich nie gekümmert, bis ihr Sohn plötzlich verhaftet wurde. Nikolai, 26, hat Cello und Jura studiert.

»"Als die Tür aufging, hat er mich gesehen, sagen Freunde. Ich habe gewunken, konnte ihn aber nicht sehen." Natalia Kawkaski«

In der Stadt stille Solidaritätsbekundungen mit Mindestabstand: Gruppenproteste müssen genehmigt sein.

»"Die sind doch unschuldig, und die wirklichen Provokateure der Schlägerei mit der Polizei sind noch frei.“ Eine Frau mit einem Plakat mit dem Bild von Nikolai«

Ein Polizist hat unbemerkt mitgeschrieben, geht dann wortlos weg. Das Gefühl ständiger Überwachung soll vermutlich einschüchtern.

Polizisten greifen an
Polizisten greifen an | Bild: BR

Rückblick: Friedlich begann die Demonstration am 6. Mai 2012, gegen Putin und seine dritte Amtszeit als russischer Präsident. Doch dann begann die Konfrontation: 13.000 Spezialkräfte, viele aus entfernten Landesteilen eingeflogen. Eine regelrechte Orgie von Gewalt und Verhaftungen beginnt, inszeniert, so eine Untersuchungskommission, von den Sicherheitskräften.

Inzwischen haben Fahnder, Journalisten und Menschenrechtler unzählige Videos ausgewertet: Hier die Schlüsselszene mit Natalias Sohn Nikolai.

Dmitri arbeitet für eine Internetzeitung: Er hat alle verfügbaren Videos und Fotos gesammelt. Sein Material hilft den Verteidigern der Angeklagten, deren Bewegungsprofile auf der Demonstration nach zu vollziehen. Auch das von Nikolai.

»"Hier sieht man, wie der Polizist Nikolai mit dem Knüppel schlägt. Der hebt seine Arme nur hoch, um seinen Kopf zu schützen. Was im Detail geschah. ist unklar. Aber das soll schon reichen, um daraus eine Strafanzeige zu konstruieren?" Dmitri Borko«

Nikolai, zeigen die Bilder, war aufgeregt angesichts der Polizeigewalt.

»"Es gibt Videos, auf denen Nikolai schreit: 'Herr Offizier, stoppen Sie Ihre Leute! Rufen Sie Erste Hilfe!‘" Dmitri Borko«

Ihr Sohn ist unschuldig, glaubt auch Natalia. Sie fühlt sich an die Schauprozesse unter Stalin erinnert, sagt sie uns. Einmal pro Woche bringt sie ihrem Sohn Medikamente und Gemüse in die Untersuchungshaft. Das Butyrka ist eine gefürchtete Adresse.

»"Das ist alles ein Alptraum, den ich mir vorher gar nicht vorstellen konnte. Man hofft dauernd, einfach wieder wach zu werden." Natalia«

Inzwischen hat Nikolai Gallen- und Leberprobleme, er bekam hier Bluthochdruck, eine Allergie, er hat ständig Kopfschmerzen.

Nikolais Anklage ist besonders haltlos: Der Polizist, den er verletzt haben soll, wurde nie gefunden.

Überall in Moskau sitzen Eltern, die um ihre Söhne kämpfen. Einer von Ihnen: Victor Sawjojow. Sein Sohn Artjom wurde hier, in der Wohnung verhaftet, erst Wochen nach der Demonstration. 24 Stunden lang suchte er ihn verzweifelt in ganz Moskau, bis er ihn im Polizeihauptquartier fand.

Udo Lielischkies und Victor Sawjojow
Udo Lielischkies und Victor Sawjojow | Bild: BR

Auch Victor hat mit Hilfe unzähliger Internetvideos minutiös nachvollzogen, wo sein Sohn an diesem Tag war: Artjom schaute nur neugierig zu.

»"Niemand hat irgendetwas Gewaltsames bei ihm gesehen. Und dann kommen plötzlich vier Polizisten und zwingen ihn einfach so auf die Knie." Victor Sawjojow«

Artjom wird verhaftet, dann aber schnell wieder freigelassen, weil nichts gegen ihn vorlag. Erst dann, Wochen später, die erneute Verhaftung und ein seltsamer Vorschlag eines Ermittlers, an Victor, den Vater.

»"Der sagt zu mir: 'Victor, Deinem Sohn drohen acht bis zehn Jahre Gefängnis. Wenn Du uns hilft und er gesteht, bekommt er zwei bis drei Jahre.' Und ich habe ziemlich laut geantwortet: 'Würdest Du denn zwei, drei Jahre sitzen wollen ohne jeden Grund?' Da wurde er rot und ging weg.“ Victor Sawjojow«

In der kleinen Wohnung lebte er mit Artjom alleine. Seine Frau starb vor kurzem.

"Artjom“, meint er verbittert, "soll angeblich zum Umsturz aufgerufen haben. Dabei stottert er so stark, dass er kaum seinen Namen raus kriegt.“

Die Nachbarn haben umgerechnet 15.000 Euro für Artjoms Kaution gesammelt. Das ist viel Geld in dieser Gegend.

Ein Foto von Artom auf einem Plakat
Ein Foto von Artom auf einem Plakat | Bild: BR

Artjom ist 32, sein Foto ist oft zu sehen bei der Demonstration am 12. Juni. „Das ist unsere Stadt!“, ruft Victor. Musiklehrerin Natalia musste sich ein Herz fassen, es ist ihre erste Demo. Ein paar Tausend sind es heute nur, ein Bruchteil der großen Protestbewegung im vergangenen Mai, die so viele Teilnehmer hinter Gitter brachte.

Dieselben Uniformen, schlechte Erinnerungen, für einen kurzen Moment sieht es wieder nach Konfrontation aus: In zwei Reihen haben sich Ordnungskräfte gestaffelt, die hintere kurz vor dem Kreml. Doch heute bleibt alles friedlich am Bolotnaja-Platz. Hier wurden ihre Söhne vor gut einem Jahr verhaftet. Es hat ihr Leben schlagartig verändert.

»"Aber das hier gibt mir ein Gefühl von Solidarität und Unterstützung. Ich werde es Nikolai erzählen." Natalia«

Nikolai und Artjom
Nikolai und Artjom | Bild: BR

Natalias Sohn ist einer der ersten, der am Montag beim Prozessauftakt in den Glaskäfig geführt wird. Artjom kommt gleich danach. Zwei junge Moskowiter, die vermutlich für Jahre in Straflagern verschwinden werden.

Das Fernsehen muss wieder draußen bleiben. Die wenigen Bilder stellt das Gericht. Selbst die Rechtsanwälte befürchten einen politischen Schauprozess.

»"Ich bin Ingenieur und daran gewöhnt, mich mit logischen Abläufen zu beschäftigen, mit rationalen Dingen. Aber unser jetziges Gerichtssystem hat damit nichts mehr zu tun." Victor«

Waage und Schwert – doch dass hier wirklich Recht gesprochen wird, bezweifeln viele. Freisprüche sind im russischen Strafrecht eine exotische Ausnahme.

Autor: Udo Lielischkies, ARD Moskau

Stand: 15.04.2014 11:08 Uhr

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