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Gaza: Humanitäre Katastrophe

Kind erhält eine Dosis des Polio-Impfstoffs
Trotz Impfungen ist im Gazastreifen Polio ausgebrochen | Bild: IMAGO / ZUMA Press Wire

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Ein Kind in Gaza entwickelt als erstes in der Region Polio-Symptome – eine gelähmte Schulter und ein gelähmtes Bein. Das war letzten März, nachdem die Schluckimpfung wegen des Krieges ausgesetzt werden musste. Über Monate hinweg hat ein Team des Weltspiegels die Geschichte des Jungen seitdem begleitet. Drei Mal wurde vor Ort gedreht. Das Kind sollte zur Behandlung evakuiert werden, bis heute sitzt es fest – eingeschlossen im Gazastreifen, wo die humanitäre Lage zunehmend katastrophale Ausmaße annimmt. Die Versorgungslage in Gaza ist dramatisch: Hilfsorganisationen wie das Welternährungsprogramm (WFP) schlagen Alarm. Nahrung wird knapp, und die Lagerbestände des World Central Kitchen (WCK), die Tausende Menschen täglich mit warmen Mahlzeiten versorgen, sind aufgebraucht. Die Blockade und die anhaltenden Kämpfe erschweren die Versorgung der Bevölkerung massiv.

Diagnose Kinderlähmung

Das sind Abdulrahman und seine Mutter Nevin. Acht Monate haben wir sie begleitet. Wir wollten wissen, wie eine der hunderten Nachrichtengeschichten aus dem Gazastreifen weitergegangen ist. Seine Geschichte ist die des ersten Kindes in Gaza, mit Polio, Kinderlähmung. Die Geschichte eines Kindes, von über einer Millionen Kinder im Gazastreifen. Es ist Ende September 2024. Nevin findet gleich heraus, ob ihr Sohn Abdulrahman noch eine Chance auf Heilung hat. Vielleicht sogar noch heute wieder auf den eigenen Beinen stehen kann. "Er wird seine erste Physiotherapiestunde haben. Ich weiß nicht, ob es ihm helfen wird, oder nicht. Ich hoffe es so sehr".

Kind wird von Ärztin untersucht
Abdulrahman kann sein rechtes Bein und seine linke Schulter kaum bewegen | Bild: SWR

Der knapp Einjährige kann sein rechtes Bein und seine linke Schulter kaum bewegen. Ob ihm die Physio helfen wird, ist noch unklar. Am Ende wird es einen wichtigen 'Stehtest' geben. Nevin muss Abdulrahman zu Fuß einige Kilometer zu der nächsten UNICEF-Klinik tragen. Er kann nicht sitzen, nicht stehen und gehen. Ein Medikament, dass die abgestorbenen Nervenzellen wieder aktivieren kann, gibt es nicht. Die Impfkampagne, für die extra eine Feuerpause eingelegt wurde, kam für Abdulrahman zu spät. Er muss jetzt durch eine schmerzhafte Prozedur.  

Am Ende der Stehtest. Doch Abdulrahman kann die Muskeln in seinem Bein nicht ansteuern. Die Ärztin sagt Nevin, dass die manuelle Physiotherapie Abdulrahmans einzige – und sehr kleine – Chance ist. Hilfsgeräte, Bewegungsbäder und Wärmetherapien gibt es aktuell wegen dem Krieg hier nicht. "Es ist so schwer. Für mich als Mutter und für ihn. Er braucht eine bessere Behandlung." Am besten wäre eine Behandlung im Ausland. Aber die Familie, wie hunderttausende Andere, kann Gaza nicht verlassen. Zumindest noch nicht.

Keine Hilfsgüter, keine Versorgung, ein Zelt als Zuhause

Im Oktober 2024 droht die vergangene US-Regierung Israel damit, die Waffenlieferungen einzustellen, sollte sich die humanitäre Lage nicht innerhalb eines Monats verbessern. Die WHO meldet, dass die Polio-Impfkampagne im Norden des Gaza-Streifens wegen der Bombardierungen nicht planmäßig verlaufen kann. Im Januar wird schließlich eine Waffenruhe vereinbart.

Kinder bauen ein Zelt auf
Das neue Zuhause | Bild: SWR

Anfang Februar 2025. Tausende Familien kehren zurück in den Norden, das erste Mal seit Monaten können sie dank der Waffenruhe nach Hause. Doch die meisten wissen nicht, was sie erwartet, ob ihre Häuser überhaupt noch stehen. Auch Nevin, ihr Mann und die neun Kinder wollen zurück nach Hause. Sie haben außerdem große Neuigkeiten. Eventuell kann Abdulrahman in Deutschland behandelt werden. Das hier das neue Zuhause. Nördlich von Gaza Stadt bauen sie ein Zelt auf. Ihr Haus wurde zerstört. Es ist kalt und feucht. Alle müssen mit anpacken. Nevin behält Abdulrahman auf ihrem Schoss, er kann noch immer nicht stehen. Die Geschwister versuchen, ihn mit Munitionshülsen bei Laune zu halten. Spielsachen haben sie keine mehr.

Das Zelt steht. Zeit zum Einräumen. Nevin weiß nicht mehr, wie oft sie schon versucht hat ein neues provisorisches Zuhause einzurichten im letzten Jahr. Sie weiß aber: hier im Norden wird das Leben besonders schwer werden, auch für Abdulrahman. "Leben existiert hier nicht mehr. Es gibt keine Krankenhäuser, keine Häuser, keine Behandlung. Auch keine Notfallversorgung." Monatelang ließ Israel kaum Hilfsgüter, NGOs und Unterstützung in den Norden. Die meisten Menschen waren für Monate von hier vertrieben. Es gibt also kaum Infrastruktur oder Versorgung. Aber es gibt Hoffnung. Ein Krankenhaus in Deutschland will Abdulrahman eine Behandlung ermöglichen. Doch die Ausreise scheitert aktuell daran, dass die verantwortliche israelische Behörde die Genehmigung nur Abdulrahman, aber nicht der Mutter ausgestellt hat. "Es war ermüdend und mit Tränen und Trauer verbunden. Warum?" Abdulrahman soll ausreisen. Er ist schon lange krank. Und er ist das einzige Kind, mit Polio. Das hat er vom verdreckten Wasser bekommen. Warum sollte er nicht ausreisen und ich mit ihm. Mein Sohn untersteht meinem Schutz. Es gibt niemanden der ihn besser beschützen könnte als ich.

Hoffnung auf Ausreise nach Deutschland

Mitte Februar 2025. Mittlerweile wurden in dem Krieg mindestens 13.000 Kinder getötet. Etwa 90 % der Bevölkerung wurden zur Flucht gezwungen. Die Gesundheitsversorgung ist weitgehend zusammengebrochen. 96 % Kinder hier empfinden den Tod als unmittelbar bevorstehend, und fast die Hälfte ist überzeugt, dass sie wegen des Krieges sterben werden. Eine Woche später, am 16. Februar 2025, ein halbes Jahr nach Erkrankung, kommt die Nachricht. Sie können ausreisen. Am nächsten Tag. Die Mutter kauft noch das Nötigste ein für die Reise.

Abdulrahman und seine Mutter Nevin
Abdulrahman und seine Mutter Nevin | Bild: SWR

Daheim macht Nevin Abdulrahman noch einmal hübsch für den Abschied. Wann sie die Familie wieder sehen werden, wissen sie noch nicht. Aktuell lässt Israel niemanden über die Grenze zurück in den Gazastreifen. Nevins Vater und die Familie können es noch nicht ganz fassen, dass Abdulrahman jetzt eine Chance auf Heilung in Deutschland hat und schon morgen in Sicherheit ist. "Ich danke der deutschen Regierung und dem deutschen Fernsehen für das Interesse an unseren palästinensischen Kindern", sagt der Großvater. Es ist ein Bitterer Abschied. Nevin weiß nicht, wann sie ihre Familie wiedersehen wird. "Ich bin traurig. Ich weiß, dass Abdulrahman ausreisen und behandelt werden muss, aber gleichzeitig ist es schwer, meine Familie und Kinder zurückzulassen. Es ist alles schwer." Und dann kommt mitten in der Nacht die Nachricht: Die Ausreise klappt nicht. Die Vorbereitungen für den komplizierten Transfer in Ägypten und die Genehmigungen in Deutschland sind nicht abgeschlossen. 

Anfang März 2025. Israel beginnt die Hilfsgüter in den Gazastreifen komplett zu blockieren. Mitte März beendet die israelische Armee mit massiven Angriffen im Gazastreifen die Waffenruhe. Durch die komplette Blockade kommt es zu immer mehr Fällen von Mangelernährung. Anfang Mai sind 65.000 Kindern betroffen, gibt das Gesundheitsministerium in Gaza bekannt.  

Die Essensvorräte sind zu Ende

Mai 2025. Diese Woche in Gaza Stadt. Nevin und ihre Familie mussten wieder fliehen. "Ich hab beim ersten und zweiten Mal noch gehofft", sagt die Mutter. "Der Übergang ist gesperrt, das Thema Visum und Abdulrahman ist immer noch dasselbe. Er macht weiter Physiotherapie. Wenn es so weitergeht, bleibt der Junge für die nächsten zwei Jahre oder mehr so."

Frau mit Pfanne über Feuerstelle
Die Reste vom Vortag müssen reichen  | Bild: SWR

Das sind die Reste der eine Mahlzeit vom Vortag, die die Familie bei einer Suppenküche bekommen hat. Es war die letzte Mahlzeit, die diese ausgegeben wurde. Die Vorräte sind seit gestern zu Ende. Ab jetzt weiß die Familie nicht mehr, wo sie noch Essen herbekommen sollen. "Das sind kleine Kinder, man selbst kann das aushalten mit dem Hunger, aber die kleinen können das nicht."

Bis jetzt hat Israel die Hilfsgüter, die nur wenige Kilometer entfernt an der Grenze warten, nicht reingelassen. Die Familie wird weiter hungern. Und lange werden sie hier wahrscheinlich auch nicht bleiben können. Der Anfang Mai verabschiedeten Plan des israelischen Sicherheitskabinetts sieht die die Umsiedlung der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens in den Süden vor. Es wäre ihre achte Vertreibung. Die Hoffnung nach Deutschland zu kommen, haben sie aufgegeben. Seit Beginn des Krieges haben zwei Kinder aus Gaza eine Einreisegenehmigung nach Deutschland bekommen. 

Autorin: Hanna Resch, ARD-Studio Tel Aviv

Der Weltspiegel Podcast "Kindheit im Krieg: Wie überleben Kinder in Gaza", Host: Joana Jäschke, Redaktion: Steffi Fetz, in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt.

Stand: 11.05.2025 22:29 Uhr

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