So., 01.06.25 | 18:30 Uhr
Japan: Im Land der Meerfrauen
Lauern spitze Steine auf dem Weg? Kommt vielleicht Regen auf? Wird die Sicht dann noch klar genug sein? Die Gedanken von Aiko Ohno, wenn sie ihren Arbeitstag beginnt. Hier an der Küste kann das Wetter schnell umschlagen. Es helfen die Rituale der Vorfahren. "Den Stern kann man mit dem Finger schreiben, ohne abzusetzen. Für uns ist das ein Glückssymbol. Dass wir unversehrt wiederkommen, wenn wir ins Meer gehen", sagt Taucherin Aiko Ohno.
Kollegin Torako zählt mit ihren 75 Jahren noch zur Generation derer, die für Frauen keinen anderen Beruf kannten als den der Muscheltaucherin und hat keinen Grund darüber zu klagen: "An Land tun mir immer die Beine weh. Im Wasser geht es besser, da habe ich weniger Schmerzen in den Knien."
Arbeit mit Tradition und Risiko
Einst waren es Tausende Frauen, die an die Strände zogen. In der Region Mie im Westen Japans, berühmt als Heimat der Ama, der Meerfrauen. Im Wasser zu Hause. Dieses Leben, nicht immer angenehm. Und nie ungefährlich. "Es gibt Fische, die beißen. Ebbe und Flut können sich ändern. Oder es kommt eine große Welle", erzählt Aiko Ohno.

Die Brandung reißt Torako von den Beinen. Die Wellen tragen die Gruppe gefährlich nah an die Felsen. Aiko taucht wie die anderen ohne Sauerstoffflaschen. Bis zu neun Meter tief mit einem Atemzug. Hinunter ins Reich der Abalonen. So heißen die muschelartigen See-Schnecken, versteckt in den Felsspalten. Eine Delikatesse. Auf sie haben es die Ama-Taucherinnen abgesehen. "Ich hab eine rote und eine schwarze! Aber sie sind noch etwas klein", sagt Aiko Ohno. Ein anderer Meeresbewohner will sich gar nicht von ihr trennen. Der Oktopus saugt sich an ihr fest. Und landet am Ende doch in ihrem Beutel. "Heute sind die Wellen ganz schön stark. Die Flut kam früher als erwartet. Das Wasser ist trüb. Aber na ja, ist schon ok. Immerhin habe ich den Oktopus gefangen!"
Wie steht es um die Zukunft der Taucherinnen?

Auf die Abalonen, zu Deutsch Seeohren, warten Restaurant-Köche. Aiko schätzt das einfache Leben der Ama-Frauen so sehr, dass sie vor zehn Jahren aus Tokio hierherzog. Später kam Mariko hinzu. Sie sieht in Aiko ein Vorbild: "Sie war die erste, die von außen dazu kam. Wie eine Pionierin. Ich lerne viel von ihr." Eine enge Gemeinschaft verbindet die Frauen. Sie arbeiten immer in Gruppen. Die Älteren wie Torako tauchen seit Jahrzehnten. Ungewöhnlich, wenn eine Neue hinzukommt. Aber nicht unmöglich. "Am Anfang waren alle ein bisschen perplex und wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten. Mir ging es ganz ähnlich. Aber Stück für Stück sind wir aufeinander zugegangen", erzählt Aiko Ohno.
Der Fischerhafen im kleinen Ort Ijika. Treffpunkt der Ama-Taucherinnen. Die meisten von ihnen im Rentenalter. Hier wie überall im ländlichen Japan mangelt es an Nachwuchs, wegen Abwanderung und Geburtenrückgang. Wo einst Hunderte ihren Fang auslieferten, sind es heute nur noch ein paar Dutzend. Die 46-jährige Aiko gehört zu den Jüngsten. Um vom Fang leben zu können, steigen sie mehrmals pro Woche ins Meer. Aber die Natur spielt nicht mehr so mit wie früher: "In letzter Zeit nehmen die natürlichen Ressourcen immer weiter ab. Damit geht auch das Einkommen der Ama-Taucherinnen zurück. Das ist ein weiterer Grund, warum sie weniger werden."
Früher tauchten die Ama in weißen Gewändern, ganz Japan kennt sie so. Die Faszination lässt auch Aiko nicht mehr los. Das Tauchen begeisterte sie schon immer. Hier konnte sie es zum Beruf machen. Aber die Meeresbiologin erkennt Veränderungen unter Wasser, die ihre große Leidenschaft bedrohen: "In den letzten zwei, drei Jahren ist das Seegras stark zurückgegangen. Sehr stark sogar. Wir können es wirklich mit den eigenen Augen sehen. Es fühlt sich schlimm an."
Der Rückgang der Unterwasserpflanzen, auch durch den Klimawandel, setzt den Abalonen stark zu. An manchen Stellen nur noch nackter Fels und sandiger Boden. Schädlinge machen sich breit. Die Ama-Taucherinnen kämpfen dagegen an. Sie ernten nicht nur im Wasser, sondern setzen auch neue Muscheln aus, um die Bestände zu erhalten. Dahinter steht eine Philosophie, die Demut einfordert. Auf einem Hügel, 300 Meter über dem Meer, bitten die Ama-Frauen seit Jahrhunderten um den Beistand der Götter. Nach jedem Tag im Meer kommen auch Aiko und ihre Gruppe hierher: "Ich möchte diese Tradition gerne bewahren. Und sie an die nächste Generation weitergeben. Ich finde, es darf auf keinen Fall mit unserer Generation aufhören."
Autor: Ulrich Mendgen / ARD Tokio
Stand: 01.06.2025 22:30 Uhr
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