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Indien: Neuanfang für afghanische Näherinnen

Indien: Neuanfang für afghanische Näherinnen | Bild: WDR

Aus dem Keller holen sie Nachschub. Es sind Stoffreste, die in den Textilfabriken von Neu-Delhi unter den Tisch fallen. Nach der Reinigung werden sie für die Weiterverarbeitung sortiert. Aus Stoffabfall soll Kunsthandwerk entstehen. Das ist die Idee der Gründerin von SilalWali und dem Geschick der afghanischen Frauen zu verdanken. Alle Frauen sind aus Afghanistan geflohen, wie Salima Hakimi: "Wegen der Taliban war die Situation sehr schlecht. Vor allem für uns Frauen war es schwierig, zu arbeiten oder zu lernen. Deswegen haben wir Afghanistan verlassen und sind nach Indien gekommen. Auch um unseren Kindern eine bessere Zukunft bieten zu können."

Afghanische Handwerkskunst made in Indien

Indien: Aus Stoffabfällen entsteht Kunsthandwerk.
Indien: Aus Stoffabfällen entsteht Kunsthandwerk. | Bild: WDR

Fast alle Frauen gehören der in Afghanistan verfolgten Minderheit der Hazara an. Auf der Flucht vor den Taliban sind sie in Indiens Hauptstadt gestrandet. Sie kamen mit wenig Gepäck und wenig Perspektive aber mit viel Talent für Handarbeit. Diese Fähigkeiten hat die Designerin Iris Strill in einem Workshop für die Flüchtlingsfrauen entdeckt. "In Afghanistan waren sie nicht im Kunstgewerbe, aber sie sind sehr geschickt. Sie haben ihre Kleidung selbst hergestellt, ihr zuhause dekoriert. Ich dachte, das ist doch perfekt, um eine Stoffpuppe zu machen. Das war unser erstes Projekt: eine Stoffpuppe aus Stoffabfall", erzählt sie.

Die Puppe wurde ein Verkaufsschlager. Es war der erste kleine Schritt zum späteren Erfolg. Aus einem Workshop wurde ein Projekt, aus dem Projekt eine kleine Firma: "SilalWali", die Schneiderin. Wichtigstes Kapital, die Fähigkeiten der afghanischen Frauen im Sticken, Häkeln und Nähen. "Wir haben das von unseren Müttern, unseren Großeltern, unseren Tanten gelernt. Das wurde uns zuhause beigebracht, alle Frauen haben es zuhause gelernt. Und es ist sehr gut, dass wir das hier in der Firma anwenden können. Das macht mich glücklich", sagt Salima Hakimi.

Eine Gemeinschaft außerhalb der Familie hat sich entwickelt. Der Anfang war nicht einfach. Die Ehemänner wollten, dass ihre Frauen die Handarbeiten zuhause erledigen, nicht in einem Fabrikgebäude irgendwo im Großraum Delhi. Ein Kompromiss musste gefunden werden. "Das Problem ist, wenn etwas zuhause nicht richtig gemacht wird, dann kommen die Frauen mit vielen unbrauchbaren Dingen zurück. Und es fällt mir schwer die Arbeit dann nicht zu bezahlen. Deswegen sind wir jetzt in ihrem Viertel. Sie können alle zu Fuß kommen", erklärt Gründerin Iris Strill.

Keine Perspektive im Land möglich

Indien: Klein Kabul in Neu-Delhi- hier leben und arbeiten Afghanen.
Indien: Klein Kabul in Neu-Delhi- hier leben und arbeiten Afghanen. | Bild: WDR

Für die afghanischen Frauen hier in Neu-Delhi bedeutet das ein Stück Unabhängigkeit. Die Firma ist international erfolgreich. Die Handarbeiten werden auf Messen und Online verkauft. Auch das Flüchtlingshilfswerk der UN wirbt für die Produkte. Alles lief gut. Bis im letzten Jahr auf einmal die Hälfte der 170 Frauen die Firma und das Land verlässt. "Als wir nach Indien kamen, war unser Ziel in ein anderes Land zu ziehen. Das dauert meistens vier bis fünf Jahre. Viele meiner Kolleginnen leben jetzt in den USA, Kanada oder Australien. Sie waren ein paar Jahre hier. Bekommen sie ein Visum, dann gehen sie", erzählt Zulaikhan.

Denn das Leben hier in Neu-Delhi ist nicht einfach für die Geflüchteten aus Afghanistan. Es gibt zwar ein Stadtviertel namens Mini-Kabul, mit afghanischen Restaurants und Läden, die auch Waren aus der Heimat anbieten, aber das Wichtigste fehlt den Flüchtlingen: die Perspektive. "Hier in Indien haben wir keine Zukunft. Wir bekommen keine indische Staatsbürgerschaft, wir bleiben Flüchtlinge. Wir haben kein Konto, keinen Personalausweis. Deshalb wollen wir möglichst in ein anderes Land ziehen", sagt Zulaikhan weiter.

Nach Jahren des Wartens bekamen im letzten Jahr von den 170 Mitarbeiterinnen 100 Frauen und ihre Familien Visa für andere Länder. Die Firma konnte nur wenige Aufträge annehmen. "Das hat unsere Firma enorm getroffen. Und wir waren nicht sicher, ob wir genug Mitarbeiterinnen für unsere Arbeit haben", erzählt dr Gründer von SilalWali Bischwadeep Moitra. Inzwischen konnten ein paar neue Mitarbeiterinnen eingearbeitet werden. Die Frauen, die immer noch in Delhi sind, hat der Weggang ihrer Kolleginnen noch enger zusammengebracht. Aus Kolleginnen sind auch Freundinnen geworden. Zu besonderen Anlässen gönnen sie sich auch mal einen Restaurantbesuch. "Mein Traum ist es, dass Frauen auf eigenen Beinen stehen und dass sie eine Ausbildung machen können. Jede Frau träumt davon sich einen Platz in der Zukunft zu erobern", sagt Gulafroz Muradi.

Afghanistan konnten sie verlassen. Delhi bietet ihnen mehr Freiheiten. Ein Anfang ist gemacht. Aber um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, wollen sie weiterziehen.

Autor:  Andreas Franz / ARD Delhi

Stand: 01.06.2025 22:29 Uhr

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