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Russland: Kasan – von Sanktionen was zu spüren?

Russland: Kasan – von Sanktionen was zu spüren? | Bild: WDR

Der Kreml von Kasan – der Blick, den Touristen suchen. Eine Burganlage, die die wechselvolle Geschichte der Stadt erzählt. Über Jahrhunderte war sie muslimisch geprägt, bis Iwan der Schreckliche Kasan vor fast 500 Jahre eroberte. Der bestimmende Glaube sollte von nun an christlich-orthodox sein. Der Glanz der Geschichte, der Völker verbindet, liegt über der Stadt. So empfinden es viele Touristen, vor allem aus Russland. "Kazan gefällt mir sehr gut, es hat eine tolle Atmosphäre. Es ist eine der wenigen Millionenstädte, die eine Kleinstadtatmosphäre hat", sagt Touristin Amalia.

Eine Stadt, in der man sich gern öfter trifft – wie diese beiden langjährigen Freundinnen, die nun in verfeindeten Ländern leben: "Wir haben auf der Wolga eine Rundfahrt gemacht, von Kasan aus und hierher wieder zurück. Und nun geht’s weiter in unsere Länder." "Ich komme aus Belarus". "Ich aus Estland."

Florierende Wirtschaft trotz Sanktionen?

Kasan: Gedenkpark für Soldaten der sog. Militäroperation.
Kasan: Gedenkpark für Soldaten der sog. Militäroperation. | Bild: WDR

Kasan als Brücke zwischen Menschen. Der Tourismus boomt in der russischen Republik Tatarstan: 4,4 Millionen Gäste gabs im vergangenen Jahr – satte zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Gut für eine Region, die ein Wirtschaftsmotor für die Föderation ist. In der Industrie- und Handelskammer erfahren wir, dass sich die anderen Wirtschaftszweige auch gut entwickeln – selbst die Ölproduktion sei nicht eingebrochen, trotz Sanktionen. "Wir hatten 2024 im Maschinen-, im Werkzeugmaschinen und im Anlagenbau den größten Zuwachs. Etwas weniger war es in der Öl-Förderung, aber das ist nicht so wichtig, die macht nur drei Prozent bei den Zuwächsen aus. Wenig, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel der Maschinenbau um 80 Prozent gestiegen ist", erklärt Artur Nikolaev von der Industrie und Handelskammer Tatarstan.

Was Nikolaev nicht sagt: Zum Maschinenbau gehören auch etwa Armeelastwagen oder Transporthubschrauber. Die Mehrproduktion zieht Arbeitskräfte und treibt Löhne und Inflation. Für Kleinbetriebe wie den von Venera Moiseeva wird das Leben dagegen härter. Wir treffen sie vor dem Stoffgeschäft "Bravissimo" in Kasan. Hier, bei Jelena, kauft sie die Stoffe, für ihr Modeatelier. Fast alles komme aus Italien, erzählt sie, ein kleiner Teil auch aus Frankreich. Aber gibt’s da nicht Sanktionen? "Wir werden oft gefragt, ob die Lieferungen wegen der Lage des Landes nicht eingestellt sind. Bei uns läuft aber alles so wie immer. Außerdem: wir haben unsere eigenen Leute in Italien", sagt sie. Eigene Leute also plus Inflation, das heißt steigende Preise: "In den letzten Jahren sicher um 25 Prozent. Aber wenn der Stoff gut ist und die Qualität gut ist, kann er natürlich nicht billig sein", sagt Venera Moiseeva.

Die Auswirkungen des Krieges auf das Leben in Tatarstan

Russland: Modedesignerin Venera Moiseeva bei den Anproben in ihrem Atelier.
Russland: Modedesignerin Venera Moiseeva bei den Anproben in ihrem Atelier. | Bild: WDR

Wir fahren mit Venera 50 Kilometer raus aus Kasan, in die Kleinstadt Arsk, wo sie lebt und arbeitet. Hier, in ihrem Modestudio, zeigt sie uns, worum es geht: Mode für Frauen, für eine Hochzeit oder einen Abendball. Ihre Kundin Landysch will im neuen Abendkleid den Wettbewerb "Geschäftsfrau Russlands" gewinnen – da kann Venera helfen. Umgerechnet 200 bis 400 Euro kosten aufwendige Kleider bei Venera. Bis zu sieben Bestellungen pro Monat, erzählt sie. Sie liebt ihre Arbeit im Studio – und träumt von der Vergangenheit, von Paris, wo sie mit anderen russischen Designern ihre Arbeit präsentieren konnte: "Wir hatten eine Modenschau im Hotel Ritz in Paris. Dort hat Coco Chanel einige Jahre gelebt. Wir sind so glücklich. Das ist mein Kleid. Da sind wir schon bei der Modenschau. Es ist so schön dort. Ich habe noch nie solche Gebäude gesehen."

Doch das ist heute so einfach nicht mehr möglich. Es ist Wochenende, zuhause in Arsk. Grillen mit den Töchtern Olga und Valeria. Ehemann Oleg steht am traditionellen Grilltopf Sadj. Hier wollten sie mal ein neues Haus bauen. Billige staatliche Kredite bleiben aus, dann die Inflation – die Baukosten hätten sich inzwischen verdoppelt. Tochter Olga beendet bald die Schule, will in die Millionenstadt Kasan – das Leben ändert sich. Und der Krieg, Oleg wirkt etwas hilflos: "Das Volk in Russland ist immer friedlich. Es ist freundlich, freundlich zu allen Ausländern. Wir haben keine Feinde. Das sind nur irgendwelche politischen Spielchen. Das einfache Volk will immer in Frieden leben."

Am Stadtrand – ein Park mit Bänken, spielenden Kindern, aber auch Panzern und Hubschaubern. Ein Gedenkpark für dutzende Helden der sogenannten Militäroperation. Was an der Front geschieht, hat das Leben der Kleinstadt erreicht. Zurück in Kasan, wo die Gräben, die Menschen trennen, kleiner scheinen als anderswo. In der Fußgängerzone: Familienfoto einer Geburtstagsrunde. Mittendrin: Mufti Ilfar Hazrat Khasanov. Er spricht mit uns über seinen Blick auf das Leben hier – eine Art Kasaner Glaubensbekenntnis: "In russischen Familien gibt es Muslime, und in tatarischen Familien gibt es orthodoxe Russen. Das ist unser Reichtum. Wir brauchen das Wort Toleranz nicht. Denn wenn wir uns die Bedeutung dieses Wortes ansehen, dann ist Toleranz Geduld, "ertragen", und wir ertragen nichts. Wir respektieren einander, wir sind Freunde, ganz menschlich. Und das ist unser größter Reichtum."

Freunde sein, Respekt füreinander haben: Eine Botschaft, die es wert ist, gehört zu werden – nicht nur in Russland.

Autor: Norbert Hahn / ARD Moskau

Stand: 01.06.2025 22:23 Uhr

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