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Ukraine: Unterirdische Hochkultur in Charkiw – zum Klatschen in den Keller

Ukraine: Unterirdische Hochkultur in Charkiw | Bild: ARD

Es gibt sie – die kleinen Momente, in denen das Leben in Charkiw unbeschwert wirkt. Kleine Pausen. Zwischen Luftalarmen und Angriffswellen aus Russland. Der Krieg hat das Leben in Charkiw verändert. Selbst massive Bauten wie das modernistische Opernhaus sind vor russischen Angriffen nicht sicher. Deshalb müssen die 1.500 Plätze im großen Saal leer bleiben. Die Kunst sucht nach neuen Wegen. Die große Bühne wird für Ballettproben genutzt. Die Aufführungen wurden unter die Erde verlegt. Hier im Keller proben sie für die Oper "Carmen" von Georges Bizet. "Das war eine Garage und jetzt ist es unsere Bühne – eine "Loft Stage". Wir haben sie lieben gelernt, weil sie uns die Möglichkeit gibt, rauszugehen und zu singen. Wenn wir diese Bühne nicht hätten, dann hätten wir gar keine Möglichkeit, irgendwo zu singen", sagt Veronika Koval, Solistin am Charkiwer Nationales Akademisches Theater.

Eigentlich ist diese Bühne viel zu klein, weil hinter den Kulissen zu wenig Platz ist, steht der Chor im engen Durchgang. Es gibt keinen Orchestergraben. Der Raum – nicht ausgelegt für den Klang einer Oper. Doch im Krieg ist all das zweitrangig, erklärt der Regisseur: "Theater ist lebendig, es passiert von Angesicht zu Angesicht, von Seele zu Seele. Publikum und Macher haben beide das Gefühl, gebraucht zu werden. Das Publikum weiß, dass wir es brauchen. Das ist eine Form der Therapie." Gemeinsam Kunst zu machen, gibt ihnen allen ein Gefühl, lebendig zu sein. "Ich hoffe, dass die Menschen das mit dem Leben vor dem Krieg verbinden. Sie sollen sich fühlen, als gäbe es keinen Krieg mehr. Wenigstens ein bisschen abschalten", sagt Natalija Babaruk, sie spielt die Erste Geige.

Ob ihnen das – hier im Untergeschoss der Oper – gelingen wird? Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist Stanislaw Kalinin Organist an der Philharmonie in Charkiw. Ein Meister seines Fachs. Er musiziert auf dem größten Instrument der Ukraine – ohne Publikum: "Das ist sehr schwer. Bei einem Konzert geht es darum, etwas zurückzugeben. Energie auszutauschen. Daran bin ich gewöhnt."

Normalität in Zeiten des Krieges

Stanislaw Kalinin, der einsame Organist von Charkiw, hat einen großen Traum: Er träumt davon, wieder vor Menschen in der ausverkauften Philharmonie seiner Heimatstadt zu spielen. Doch die Realität ist eine andere: Charkiw ist nur etwa 30 Kilometer von Russland entfernt. Raketen schlagen binnen Sekunden nach Abschuss ein. Die Luftverteidigung kann dagegen praktisch nichts machen. Wer Kultur unter Menschen erleben will, muss in den Keller. Live-Musik im Pub. Handy-Apps warnen, dass draußen mal wieder Luftalarm herrscht. Hier unten fühlen sich die Menschen relativ geschützt. Ein Versuch, sich abzulenken. Die Oper von Charkiw. Erste Theatergäste gehen in den Keller. In der Nacht gab es wieder massive russische Drohnenangriffe. Kurz vor ihrem großen Auftritt als Carmen versucht Veronika Koval, diesen Alltagsstress zu überspielen: "Wenn Drohnen über deinem Kopf fliegen, ist das nichts schönes, auch wenn sie woanders einschlagen. Sie waren genau über mir – und ich wohne im obersten Stockwerk. Aber was soll ich machen? Du musst weiter leben, auf die Bühne gehen und das Publikum glücklich machen.”

Dann geht es auch für die Hauptdarstellerin nach unten. Letzte Vorbereitungen beim Orchester. Vorfreude beim Publikum. "Wir sind traurig, dass wir nicht wie sonst im richtigen Saal sein können, weil Krieg herrscht. Aber die Tatsache, dass wir ausgehen, abschalten und das Schöne sehen können, tut gut", sagt Opernbesucherin Tetiana und Anatolij erzählt: "Ich suche nach dem Positiven, denn es ist alles nicht leicht. Bei allem, was um uns herum passiert, tut es manchmal gut, die Schönheit zu genießen, die uns unsere Künstler schenken."

In Charkiw gehen sie zum Klatschen in den Keller. Sie wollen dem Krieg trotzen, Kultur leben.

Autor: Vassili Golod, ARD-Studio Kyjiw

Stand: 02.06.2025 23:52 Uhr

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Westdeutscher Rundfunk
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