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Russland: Leben mit Sanktionen

PlayRussland: Wladiwostock – Folgen der Sanktionen.
Russland: Leben mit Sanktionen | Bild: WDR

Wer von Moskau aus neun Stunden nach Osten fliegt, landet – immer noch: in Russland. Und mit Glück hier, in Wladiwostok, der Hafenstadt am Pazifik. Japan und Südkorea liegen gleich um die Ecke. Die Stadt wirkt weltoffen, ein Handelsplatz seit Jahrhunderten. Dass gerade jetzt der Handel wieder floriert, trotz der Sanktionen, liegt: an den Sanktionen. Über Nacht ist hier ein halber Meter Schnee gefallen – ein Schneesturm noch im Frühling, gar nicht so ungewöhnlich für Wladiwostok.

Autos aus Ostasien

Wladimir Tsoi ist mit seinem Team unterwegs, geschäftlich. Er verkauft Autos für einen großen Händler, das Geschäft boomt. Am Steuer sitzt der Kollege, das Steuer ist rechts. Er wundert sich, dass wir uns wundern: "Für mich ist das total ungewöhnlich. Wie können sie damit denn fahren? Hier gilt doch Rechtsverkehr?""Bei uns in Wladiwostok fahren alle so, bestimmt neunzig Prozent haben das Steuer rechts", sagt der Autoverkäufer.

Der Grund ist simpel: Seit Jahrzehnten kaufen sie hier Gebrauchtwagen aus Japan – und dort sitzt das Lenkrad nun mal rechts. In Wladiwostok stört das niemanden. Solche Parkplätze gibt es rund um die Stadt. Mit Gebrauchtwagen, die auf Abholung warten. Man bestellt sie mit Hilfe einer Firma übers Internet in Japan oder Südkorea, dann kümmert sich die Firma um den Rest. Wie die, für die das Team von Wladimir Tsoi arbeitet. "Die Wartezeit für ein Auto aus Südkorea ist bis zu 30 Tagen, aus Japan etwa drei Wochen. Dann ist es in Wladiwostok, und von hier aus übergeben wir des den Kunden oder einer Spedition, die es weitertransportiert", erzählt er.

Der schwarze Daimler hat erst dreißigtausend auf dem Tacho. Und weil er aus Südkorea kommt, das Steuer links, das macht ihn noch teurer. Das Auto geht nach Moskau, sagt Wladimir. Den Preis verrät er nicht. Die teuren, sagt er, gehen meist nach Moskau oder Petersburg. Ein Problem aber gibt es – aber auch das löst die Händlerfirma. "Wenn der Kunde will, können wir das Auto sprachlich russifizieren lassen", sagt Chef der Firma Jurij Radtschenko.

Die Nachfrage sei explodiert, sagt Jurij Radtschenko, der Chef der Firma. Wegen der Sanktionen kämen ja außer chinesischen fast keine Neuwagen mehr ins Land. Aber für Gebrauchte gebe es kaum Einschränkungen: "Gebrauchtwagen aus Japan dürfen nicht teurer sein als sechs Millionen Yen, gut 40.000 Euro. Alles darunter geht. Das heißt, fast alle Autos. Nur die großen Landcruiser-Modelle nicht, oder Luxuswagen wie Rolls Royce. Die fallen vom Preis her unter die japanischen Sanktionen. Aber die hat auch vorher kaum einer bestellt.“

Eine Stadt weit weg von Moskau

Welche Straße man auch hinunterblickt – unten ist immer der Pazifik. In Wladiwostok endet die berühmte transsibirische Eisenbahn. Viel weiter weg von Moskau geht kaum. Wie in vielen russischen Städten werben auch hier Plakate für den Kriegsdienst, prangen das große Z und das V, die Symbole für den Krieg in der Ukraine. Doch die Stimmung scheint nachdenklicher als anderswo:

"Wir vertrauen dem allen schon. Den Krieg untestützen wir nicht sehr, aber denken, dass es wohl notwendig war."

"Es liegt eine Spannung in der Luft, als wäre sie aufgeladen, jeden von uns umgibt das. Es gibt weniger Vergnügungen, man will nicht mehr feiern – so geht es nicht nur mir, auch meinen Kollegen. Und alle reden "darüber" nur zuhause, in den Küchen."

"Was soll ich sagen. Wir sind weit, aber wir machen uns Sorgen. Das ist ein Schmerz, den wir spüren, eine große Sorge. Und zwar um alle."

"Ich will nicht unter das Gesetz fallen, also sage ich Spezialoperation. Ich bin gegen Krieg. Aber wir haben ja keinen, es ist eine Spezialoperation. Alle verstehen natürlich genau was los ist."

Russland: Was denken die Menschen in Wladiwostock über die Sanktionen?
Russland: Was denken die Menschen in Wladiwostock über die Sanktionen? | Bild: WDR

Was los ist – dafür interessiert sich auch die Kundschaft in einem der unabhängigen Buchläden von Wladiwostok. Sie sind gut sortiert hier, viel zu Philosophie oder Geschichte gibt es. Bestseller im vergangenen Jahr war George Orwell. Das ist fast überall so, sagt Walentin, einer der Betreiber. Aber hier haben sie noch eine Besonderheit bemerkt. "Die Bücher von Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler oder Aufzeichnungen eines Deutschen, das kaufen die Leute. Haffner ist einer unserer Bestseller. Literatur, die sich mit dem Deutschland von damals beschäftigt ist jetzt total populär. Mir scheint, jeder Verlag versucht jetzt, Bücher über diese Zeit herauszugeben – seien es Erinnerungen, historische Bücher oder Essays", sagt der Buchhändler.

Eine ganze Abteilung über die Hitlerzeit. Bücher über den zweiten Weltkrieg, über Aufstieg und Fall des Dritten Reichs. All das wird jetzt gelesen, sagt die Buchhändlerin Julia: "Das hier ist auch ein Bestseller. Florian Illies, Liebe in Zeiten des Hasses. Vielleicht, weil es ein wenig wie Therapie ist. Er schreibt ja über Liebesgeschichten in den Dreißigern. Also über eine nicht einfache Zeit – aber dennoch über die Liebe."

Und noch etwas unterscheidet die Lesegewohnheiten in Wladiwostok vom Rest des Landes: Asiatische Literatur. Japan, Südkorea, China – die zeitgenössische Literatur der Nachbarn wird verschlungen. Man sei eben anders hier. "Es heißt ja oft in Moskau, wir seien hier am Ende der Welt. Aber das sagen die, die aus unserer Sicht am anderen Ende der Welt sind. Und genau das, denke ich, spiegelt den Hintergrund, die Spezifik unserer Stadt: Für uns sind die großen asiatischen Hauptstädte viel näher", sagt Julia.

Wladiwostok ist in vielem eine Stadt wie alle – auch hier regiert die Putin-Partei, auch hier ist Protest verboten, auch von hier ziehen junge Männer in den Krieg. Und auch hier hört man nur wenig direkte Kritik daran. Sieben Stunden beträgt der Zeitunterschied zur Hauptstadt Moskau. Immer noch dasselbe Russland – und doch irgendwie ein anderes Universum.

Autorin: Ina Ruck / ARD Moskau

Stand: 02.04.2023 20:34 Uhr

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