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Russland: Wohin mit Moskaus Müll?

PlayRussland: Durch Zufall konnten Aktivisten den Plan aufdecken, eine heimliche Deponie für Moskaus Müll im russischen Norden zu errichten

Großes, reiches Moskau – 20 Millionen Menschen leben in der Metropole und Umgebung. Ein Viertel des russischen Bruttoinlandsprodukts entsteht hier. In der Stadt: Luxusautos, moderne Erlebnis-Gastronomie.

Aktivisten befürchten größte Entsorgungseinrichtung Europas

Russland: Notfalls wollen die Aktivisten auch die Gleise blockieren, um den Bau zu stoppen
Russland: Notfalls wollen die Aktivisten auch die Gleise blockieren, um den Bau zu stoppen

Das ist die Kehrseite. Müll, viel Müll. Nach wie vor landet ein Großteil des russischen Mülls auf Deponien, noch wird wenig recycelt. Deshalb wollten Behörden den Müll mit Zügen hierher bringen lassen, 1.200 Kilometer Richtung Nordosten. Schijes, eine Bahnstation mitten in der Taiga. Durch Zufall haben Jäger diese Baustelle entdeckt – ein Schock für Anwohner wie Anja Schekalowa. "Zunächst war die Rede von 300 Hektar Wald, die sie fällen wollten, und jetzt sind es schon 3.000 Hektar. Es ist unfassbar, was sie vorhaben. Sie wollen den Norden Russlands einfach vernichten", so Anja Schekalowa, Aktivistin.

Aktivisten befürchten die größte Entsorgungseinrichtung Europas. In einem Sumpfgebiet. Giftstoffe könnten über Flüsse ins Meer gelangen, glauben sie. Fest steht: Es wurden keine Umweltstudien erstellt, der Bau ist nicht genehmigt. Deshalb haben die Anwohner um Anja Schekalowa mit Protesten begonnen. Sie blockierten Benzinlaster, bis der Treibstoff per Hubschrauber geliefert werden musste.

"Wir waren 35 Leute auf dem Hubschrauber-Landeplatz, dann kam eine Schar von mindestens 60 Sicherheitsleuten auf uns zu. Die haben angefangen, uns wegzuschleppen und zu schlagen", erzählt Anja Schekalowa.

Mülltrennung mit Hilfe des Internets

Russland: Anja Schekalowa ist eine der engagiertesten Aktivistinnen in Schijes
Russland: Anja Schekalowa ist eine der engagiertesten Aktivistinnen in Schijes

Der Bau ist zwar gestoppt, doch die Atmosphäre angespannt. Vermummte Sicherheitsleute bewachen die Baustelle, auch wir werden gefilmt, ein Polizist spricht Notizen in sein Telefon. Tag und Nacht sind die Aktivisten auf der Hut, ob die Bauarbeiten nicht doch wieder beginnen. "Nur gemeinsam sind wir stark. Am Anfang waren wir zu fünft. Und jetzt, schauen Sie sich an, wie viele wir sind! Wir sind stark! Wir sind einfache Leute und jetzt sollten die da Angst vor uns haben", so Anja Schekalowa.

Dabei könnte Moskau eigentlich von ihnen lernen! Hier sind sie beim Thema Mülltrennung ganz weit vorne. Im nächstgelegenen Ort Urdoma haben die Bürger selbst einen Sammelpunkt für wiederverwertbare Abfälle eingerichtet. Marina Pachtusowa hatte die Idee. Mehr als zehn verschiedene Müllarten trennen sie, jedes Symbol steht für einen Wertstoff, zu finden auf jeder Verpackung.

"Google ist uns eine große Hilfe. Wenn man im Internet eingibt: Wo kann man in der Nähe Altpapier oder Plastik abgegeben, dann findet man doch heute alles", sagt Marina Pachtusowa, Aktivistin.

Abtransport des regulären Mülls klappt schlecht

Russland: Durch Zufall konnten Aktivisten den Plan aufdecken, eine heimliche Deponie für Moskaus Müll im russischen Norden zu errichten
Russland: Durch Zufall konnten Aktivisten den Plan aufdecken, eine heimliche Deponie für Moskaus Müll im russischen Norden zu errichten

Nach der Arbeit fährt Marinas Ehemann vor, die wiederverwertbaren Abfälle sortieren die beiden zu Hause. Mit ihrem Engagement in Urdoma haben sie Preise gewonnen – und es steckt an. "Der Mensch wächst und versteht anhand von Beispielen, dass man nicht mehr so weiter leben kann, wie man es vorher getan hat", so Marina Pachtusowa. Von der Stadtverwaltung sind sie dagegen enttäuscht. Der Abtransport des regulären Mülls klappt schlecht. Deshalb nehmen Marina Pachtusowa und ihr Mann die Sache weiter selber in die Hand, sammeln die Wertstoffe in ihrer Garage und fahren sie später zu nahegelegenen Annahmestellen.

"Einige kommen vorbei und sagen: Danke! Das gibt ein gutes Gefühl. Man merkt, dass man nicht umsonst lebt", erzählt Ljowa Pachtusow, Ehemann.

Papier, Dosen, Aluminium, Plastikdeckel, Kompost – klar, dass Marina Pachtusowa auch in ihrer Küche bei Mülltrennung ein Vorbild ist. "Man muss bei sich selbst anfangen: Welchen kleinen Schritt kann ich machen? Zuerst habe ich gedacht: Was wird man über mich sagen? Aber sollen sie doch sagen, was sie wollen. Es reicht mit der eigenen Angst, bald bin ich 50. Man muss wichtige Sachen tun", so Marina Pachtusowa.

Noch sind die Proteste friedlich

"Schijes nasch!" Schichtwechsel bei den Müllkippen-Gegnern in Schijes. Aus der ganzen Region kommen die Helfer, zum Teil zwölf Autostunden entfernt. Sie haben ein ganzes Zeltlager gebaut, Tag und Nacht schieben sie Wache. Der Gouverneur hat Arbeitsplätze versprochen, sowie Investitionen in Infrastruktur, Schulen und Krankenhäuser, falls die Müllkippe gebaut wird. Doch die Aktivisten wollen die Abfälle um keinen Preis.

Ein paar Meter weiter: In einem Info-Zelt nebenan informiert die Betreiberfirma. Ein PR-Mitarbeiter erzählt: Der Moskauer Müll werde sicher in Pakete verschweißt. Außerdem seien die Bauarbeiten hier erst Voruntersuchungen.

"Diese vorübergehenden Gebäude, wie die Wohncontainer und der Platz zum Ein- und Ausladen, das ist die minimale Infrastruktur, die man für den Beginn der Arbeiten braucht, für die Untersuchungen", sagt Adasch Chamdanow, Betreiberfirma "Öko-Techno-Park".

Die Aktivisten glauben kein Wort. Und rufen zu weiteren Protesten auf – in über 20 russischen Städten. Aktivistinnen: "Wir sind gegen Müll, wir sind gegen Krieg. Wir sind gegen Gewalt und gegen das Elend. Wir sind dagegen, dass unser Land noch tiefer sinkt."

"Sobald die Behörden die Entscheidung treffen, dass sie die Müllkippe nicht bauen, dann packen wir hier mit Freude zusammen und gehen. Bis dahin werden wir aber hier sitzen. Ich glaube ihnen nämlich nicht. Die lügen immer", sagt Anja Schekalowa.

Auch Marina und ihr Mann übernehmen Schichten an den Kontrollpunkten der Aktivisten. Ihren Protest wollen sie nicht als Konflikt "Land gegen Stadt" missverstanden wissen. "Wir sind nicht gegen die Moskauer. Aber sie und ihre Chefs müssen auch verstehen, dass es Zeit ist, den Müll zu trennen und auf Plastik zu verzichten", so Marina Pachtusowa.

Ihr Protest sei friedlich, betonen sie – doch im Zweifel, so hören wir immer wieder, könne man auch die Gleise blockieren, wenn der erste Müll dann aus Moskau komme.

Autor: Demian von Osten / ARD Studio Moskau

Stand: 22.09.2019 20:50 Uhr

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