SENDETERMIN So., 15.11.20 | 19:20 Uhr | ARTE

Türkei: Großmachtphantasien

Erdogans Machtpolitik
Erdogans Machtpolitik | Bild: Adem ALTAN / AFP

Recep Tayyib Erdoğan – Waffenexporteur und Kriegsherr. Eine Rolle, in der sich der türkische Staatspräsident offenbar zunehmend wohl fühlt.

Herbst 2019: Erdoğans Truppen greifen in Nordsyrien die Kurdenmiliz YPG an. Innerhalb von zwei Wochen erobert das türkische Militär in großem Umfang Gelände.

Frühjahr 2020: Erdoğan unterstützt die libysche Regierung mit Waffen und schickt Militärberater nach Tripolis. Die gegnerische Miliz verzeichnet Verluste.

Sommer 2020: Der türkische Staatspräsident schickt das Forschungsschiff ‚Oruc Reis‘ in mit Griechenland umstrittenes Gewässer, um nach Erdgas zu suchen. Türkische Fregatten begleiten das Schiff. Ankara und Athen stehen kurz vor einem militärischen Konflikt.

Herbst 2020: Die Türkei unterstützt Aserbaidschan im Krieg gegen Armenien.

Die aserbaidschanische Armee setzt türkische Drohnen ein. Armenien muss heftige Verluste hinnehmen. Immer wieder beschwört Erdogan das alte osmanische Reich, dessen Grenzen weit hinter denen der heutigen Türkei liegen: "Das habe ich so mehrfach wiederholt, unser Land ist viel grösser als 780.000 Quadratkilometer. Selbst wenn die Türkei es wollte, sie kann sich gegenüber unseren Brüdern vom Balkan bis nach Turkestan, von Afrika bis in den Mittleren Osten nicht aus der Verantwortung stehlen."

Kaum Gegenwind aus der Bevölkerung

Nordsyrien, Libyen, das östliche Mittelmeer, Aserbaidschan – all diese Gebiete gehörten einst zum osmanischen Reich. Erdogans geostrategischer Kurs wird in der Türkei kaum kritisiert. Die meisten Türken stehen traditionell hinter dem Militär und dessen Einsätzen. Serhat Güvenc ist in Istanbul Professor für internationale Beziehungen. Auch der Großteil der türkischen Opposition trage den aggressiven außenpolitischen Kurs Erdogans mit, so Serhat Güvenc von der Kadir Has Universität: "Die größte Oppositionspartei kann es sich nicht leisten, eine andere Sichtweise zu haben, wenn es um die Sicherheit und Existenz des Staates geht. Das macht Erdoğan natürlich starker. Er bekommt Macht jenseits seiner eigenen Anhänger."

Wenn es um Krieg geht, könne sich die Opposition auch deshalb nicht gegen Erdoğan stellen, weil das türkische Volk dann reflexartig für die Führung Partei ergreife, so Ahmet Yavuz, ehemaliger General der türkischen Streitkräfte: "Das Verhalten der Türken bei militärischen Konflikten ist eindeutig. Sie stehen ihrer Regierung bei, selbst wenn diese Fehler machen sollte. Denn die Fehler der Gegenseite werden stets als die Größeren wahrgenommen. Das weiß Erdoğan und nutzt es aus."

Feindbild Macron

Noch vor einem Jahr wollte der türkische Staatspräsident seinen französischen Amtskollegen Macron kaum loslassen. Jetzt hat Erdoğan Macron zum neuen Feindbild der Türken stilisiert. Denn dieser stellt sich beim Streit um Erdgas im östlichen Mittelmeer auf Griechenlands Seite und will nach Terroranschlägen in Frankreich gegen den islamischen Extremismus vorgehen. „Erdoğan poltert: Macron habe eine Psychotherapie nötig. Was könne man sonst über einen Staatsführer sagen, der keine Ahnung hat, was Religionsfreiheit bedeutet?“, so der türkische Präsident.

Türkei: Erdoğan insziniert Macron als Feindbild
Türkei: Erdoğan insziniert Macron als Feindbild | Bild: Emrah Gurel/AP/dpa

"Macron hat selbst innenpolitische Probleme und vom Stil her ähnelt er Erdoğan und spricht mit Schärfe, zumindest, wenn es um die Türkei geht. Erdoğan profitiert davon. In der Türkei gibt es keinen mehr, der sich auf die Polemik einlässt. Die Politiker hier kennen Erdogan und machen da nicht mit. Jetzt hat Erdogan einen Gegenspieler im Ausland gefunden", sagt Güvenc.

Armenspeisung in Istanbul. Über die wirtschaftlichen Probleme des Landes spricht Erdoğan so gut wie nie. Dabei treibt die Inflation immer mehr Menschen in die Not. "Für jede Führung gilt: Außenpolitische Themen einen die Menschen im Land. Statt die Situation im Land zu kritisieren, wird das Ausland kritisiert. Davon profitieren Regierungen", erläutert der ehemalige General, Yavuz.

In Istanbul hängt eine gigantische Fahne mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Alijew und Erdoğan an der Fassade eines mehrstöckigen Gebäudes. Die Türkei sei stolz auf Aserbaidschan, steht darauf in großen Lettern. Kurzfristig könne Erdoğan so glänzen, sagen Meinungsforscher. Auf Dauer wollten die Türken aber wirtschaftliche Erfolge sehen.

Autor: Oliver Mayer-Rüth/ARD Studio Istanbul

Stand: 15.11.2020 21:07 Uhr

15 Bewertungen
Kommentare
Bewerten

Kommentare

Kommentar hinzufügen

Bitte beachten: Kommentare erscheinen nicht sofort, sondern werden innerhalb von 24 Stunden durch die Redaktion freigeschaltet. Es dürfen keine externen Links, Adressen oder Telefonnummern veröffentlicht werden. Bitte vermeiden Sie aus Datenschutzgründen, Ihre E-Mail-Adresse anzugeben. Fragen zu den Inhalten der Sendung, zur Mediathek oder Wiederholungsterminen richten Sie bitte direkt über das Kontaktformular an die ARD-Zuschauerredaktion: https://hilfe.ard.de/kontakt/. Vielen Dank!

*
*

* Pflichtfeld (bitte geben Sie aus Datenschutzgründen hier nicht Ihre Mailadresse oder Ähnliches ein)

Kommentar abschicken

Ihr Kommentar konnte aus technischen Gründen leider nicht entgegengenommen werden

Kommentar erfolgreich abgegeben. Dieser wird so bald wie möglich geprüft und danach veröffentlicht. Es gelten die Nutzungsbedingungen von DasErste.de.

Sendetermin

So., 15.11.20 | 19:20 Uhr
ARTE

Produktion

Westdeutscher Rundfunk
für
DasErste