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Ukraine: Leben ohne Männer

PlayAngehörige eines toten Soldaten stehen um seinen Leichnam im offenen Sarg.
Ukraine: Leben ohne Männer | Bild: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Mihir Melwani

Stanislav, wie er an der Front kämpft – wo genau, muss geheim bleiben, aber diese Videos darf er uns zeigen. Weil er dort verletzt wurde, ist er gerade in Kiew. Wenige Tage Pause vom Krieg, die er nutzen will für seine Familienplanung. Er will seine Samenzellen einfrieren und konservieren lassen: "So gebe ich meiner Frau die Möglichkeit, dass sie auch in Zukunft noch Kinder von mir haben kann. Das ist wie Unsterblichkeit."
In wenigen Tagen muss Stanislav wieder zurück an die Front. Weil er dort sterben kann, ist die Samenspende seiner Frau und ihm sehr wichtig.

Für die Menschen – und das Land

Viele Reproduktionskliniken in der Ukraine bieten Soldaten das Einfrieren von Sperma kostenlos an. Dr. Oleksandr Darii erklärt Stanislav, dass die sogenannte Kryokonservierung nicht nur seinen Todesfall gedacht ist: "Verletzungen durch Explosionen können so schwer sein, dass Soldaten danach keine Kinder mehr bekommen können."

Semen Berestenko war auch Soldat. Ihm ist passiert, wovor Stanislav Angst hat. Er ist an der Front im Osten der Ukraine gefallen. Zurückgeblieben sind seine Frau Iryna und der sechsjährige Sviatoslav. Witwe Iryna Berestenko:""Es ist schwer, denn er war alles für mich. Er war mein Ehemann, mein bester Freund, mein Liebhaber. Er war alles auf der Welt für mich. Wir drei waren immer zusammen."

Jetzt kämpfen sie sich zu zweit durch den Alltag. Mit der Witwenrente kommen sie gerade so über die Runden. Gekocht hat früher oft der Vater, jetzt müssen sie es zu zweit machen. Sviatoslav spricht ständig von seinem Papa: Er will unbedingt so groß werden wie er, so aussehen wie er.
Iryna bekommt Besuch von Natalia: Auch sie ist Kriegswitwe. Kennengelernt haben sich die beiden über ein Witwennetzwerk auf Social Media: Über 1100 Witwen im ganzen Land haben sich vernetzt um sich gegenseitig zu helfen, mit Ratschlägen und Trost.
Natalia und Iryna unterstützen sich aber auch ganz praktisch, übernehmen Aufgaben, die früher der verstorbene Mann erledigt hat.

Die Männer fehlen.

Trotz Witwennetzwerk – die vielen toten Männer fehlen. Ukrainische Wissenschaftler befürchtet einen massiven Bevölkerungsschwund in den kommenden Jahren. Ella Libanova, Leiterin des Instituts für Demografie und Sozialforschung: "Es gibt Sterblichkeit beim Militär. Es gibt auch eine erhöhte Sterblichkeit unter zivilen Ukrainern, die nicht direkt mit dem Krieg zusammenhängt, sondern eine Folge des Krieges ist. Dies sind ständiger Stress, Überlastung, psychische Belastung vor allem."

Genaue Zahlen zu Toten gibt es derzeit noch nicht. Aber die Sorge um die Bevölkerungszahl, vor dem Krieg rund 40 Millionen, ist groß. Der ukrainische Staat verabschiedet derzeit ein Gesetz: Das jahrzehntelange Einfrieren von Samenzellen soll für alle Soldaten künftig kostenlos sein.

Zurück in der Reproduktionsklink in Kiew. Stanislav erfährt jetzt, ob er überhaupt noch zeugungsfähig ist. Tatsächlich: sein Sperma hat an der Front gelitten. Auf natürlichem Wege könnte er gerade kein Vater werden, aber das Problem kann gelöst werden, und zwar indem das Material eingefroren wird. Stanislav ruft seine Frau an: egal, was mit ihm passiert, sie kann noch Nachwuchs bekommen – auch ohne ihn.
Ihm, wie auch seiner Frau, hilft dieser Gedanke, wenn er bald wieder an der Front ins Lebensgefahr ist.

Autor: Judith Schacht, ARD Kiew

Stand: 04.06.2023 19:29 Uhr

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