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Denis Scheck kommentiert die Top Ten Sachbuch

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Denis Scheck kommentiert die Top Ten Sachbuch | Bild: DasErste.de

Platz 10) Hendrik Bolz: "Nullerjahre"

Erzählungen über arme Kindheiten im Nachwendeosten haben Konjunktur. Derb, aber anschaulich erzählt Henrik Bolz von einer Kindheit im Ostdeutschland der Nullerjahre und der Allgegenwart der Neonazis, von Rassismus, Vandalismus, Drogen, Gewalt und sozialem Abstieg. Warum dieses Buch allerdings auf einer Sachbuchliste auftaucht, ist mir ein Rätsel. Es arbeitet durch und durch mit romanhaften Mitteln. Das Buch besitzt ohne Frage Drive, bleibt aber in meinen Augen erkenntnisarm und schwach in der Analyse.

9) Daniel Schreiber: "Allein"

Ganz im Gegensatz zu diesem wirklich berauschend klugen Essay. Egal, ob Daniel Schreiber über den "grausamen Optimismus" einer in eine immer unwahrscheinlichere Zukunft projizierten Überwindung des Alleinseins schreibt, Ideen zur Selbstreparatur wie Gärtnern, Wandern oder Stricken ausbreitet oder über die Depression, die sich nach dem Auftauchen der ersten Weihnachtsbeleuchtungen in Alleinlebenden ausbreitet: Dieses Buch ist ein Upgrade für das Betriebssystem der über 40 Prozent, die in der Bundesrepublik allein leben.

8) Manfred Krug: "Ich sammle mein Leben"

Auf Seite eins trifft Manfred Krugs langjährige Ehefrau unverhofft in Krugs Wohnung auf seine spärlich bekleidete Geliebte, mit der er ein Kind hat. Vor Schreck nimmt sie den vier Monate alten Säugling gar nicht wahr. Manfred Krug hat sein Leben lang unfassbares Glück gehabt – und dafür gesorgt, dass es auch so blieb. Wie man das – trotz Schlaganfalls – macht, lässt sich aus seinen Tagebüchern erfahren, die ihn als ebenso witzigen wie gewitzten Querkopf zeigen. Bitte gern mehr davon.

7) Klaus von Dohnany: "Nationale Interessen"

Eine Streitschrift für das Aufwachen aus der "Illusion der Freundschaft" mit den USA und die Wiederentdeckung nationaler Interessen als handlungsbestimmendes Prinzip in der Außenpolitik. Mir kommt das zwar so vor, als wolle man mit den Rezepten des 19. Jahrhunderts die Probleme des 21. lösen – aber Dohnanys Plädoyer für eine neue Außenpolitik ist definitiv ein Buch der Stunde.

6) Hape Kerkeling: "Pfoten vom Tisch!"

Das Wissen, das Katzenhalter Kerkeling in seinem Bestseller über Katzen ausbreitet, ist überschaubar – etwa, wenn er über seine erste Begegnung mit einer Maine-Coone-Katze schreibt: "Ich hatte das Gefühl, einer sympathischen Person gegenüberzustehen: intelligent, bezaubernd, unterhaltsam und einfühlsam." All diese Qualitäten besitzt dieses Buch nicht.

5) Dr. med. Marianne Koch: "Alt werde ich später"

Gesunde Ernährung, viel Bewegung und lebenslanges Lernen sind die Schlüssel für ein gutes Altern – nicht zu vergessen Erotik, Begehren, Liebe und Sex. Ein kluges unprätentiöses Buch einer Ärztin und Schauspielerin.

4) Florian Illies: "Liebe in Zeiten des Hasses"

Illies erzählt wer mit wem wieso in den letzten Jahren der Weimarer Republik und bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Künstler- und Intellektuellenkreisen durch die Betten tobte. Das Ergebnis ist dabei nicht Klatsch, sondern ein faszinierendes Kaleidoskop der großen Gefühle. Das mache Florian Illies einer nach: so viele Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten, ohne dass einer herunterfällt!

3) David Wengrow, David Graeber: "Anfänge"

Der kürzlich verstorbene David Graeber und sein Kollege David Wengrow nehmen sich in "Anfänge" nichts weniger vor, als eine neue Geschichte der Menschheit zu schreiben – eine Erzählung, wie alles begann jenseits des Rousseauschen Urzustands des edlen Wilden und Thomas Hobbes düsterer Diagnose, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei. Das Ergebnis ist ein archäologischer und anthropogischer Anarchismus, in dem enormer politischer Sprengstoff steckt. "Das wirkliche Rätsel ist nicht, wann erstmals Häuptlinge oder Chefs oder sogar Könige und Königinnen auf der Bildfläche erschienen", so Wengrow und Graeber", "sondern ab wann es nicht mehr möglich war, sie einfach durch Gelächter zu vertreiben." Ein großer Wurf.

2) Tim Pröse mit Hans-Erdmann Schönbeck: "Und nie kann ich vergessen …"

Ich halte den Ton dieser Lebensbeschreibung über einen Oberleutnant im 24. Panzerregiment, Stalingrad-Überlebenden und späteren, Zitat, "Topmanager in der Automobilindustrie" für vollkommen unangemessen und degoutant. Zitat: "Er hatte kaum vom Leben gekostet und ein wenig von dem berührt, was man Glück nennt, da gehörte er schon Hitler." Das ist Kitsch. Man sollte einen Täter der Nazi-Wehrmacht nicht einfach erzählen lassen, ohne die Fakten zu überprüfen, und dann das ganze mit Reportageelementen und Anekdoten über den eigenen Großvater mischen.

1) Navid Kermani: "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen."

Im elften Jahrhundert reist ein berühmter Mystiker in die iranische Stadt Tus. Als die Moschee daraufhin einen ungewohnten Andrang von Gläubigen erlebt, ruft der Platzanweiser: "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen." Der Mystiker macht daraufhin auf dem Absatz kehrt und erklärt, alles was er sagen wollte und vor ihm die Propheten gesagt haben, hätte der Platzanweiser bereits gesagt. Es sind solche lange nachhallende Geschichten, die das Gespräch Navid Kermanis mit seiner Tochter über die Frage nach Gott auch für Atheisten wie mich zu einer anregenden Lektüre machen.

Stand: 27.02.2022 20:00 Uhr

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Westdeutscher Rundfunk
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