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Moral – die Erfindung von Gut und Böse

PlayEin Mann sitzt auf einer Mauer.
Moral - die Erfindung von Gut und Böse | Video verfügbar bis 18.06.2024 | Bild: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Der Mensch ist ein moralisches Wesen – und das nicht nur, weil andere es so wollen. Auch um vor uns selbst zu bestehen, versuchen wir, unsere Werte auch zu leben. Wir streben nach der Umkehr vom Falschen und Bösen und scheitern doch immer wieder an unseren eigenen Ansprüchen. Was für den Einzelnen gilt, trifft natürlich auch auf das Gemeinwesen zu, die Politik. Kann die politische Umsetzung moralischer Wertvorstellungen gelingen? Und wenn ja, zu welchem Preis?

"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral"

In seinem neuen Buch "Moral über alles" beklagt der Politikwissenschaftler und Publizist Michael Lüders eine deutsche Politik, die sich von Werten leiten lässt und nationale Interessen, vor allem wirtschaftliche, außer Acht lässt: "Wir neigen in Deutschland dazu, uns an unserer eigenen Rhetorik zu berauschen. Wir sind die Guten, wir retten die Welt, wir retten das Klima, wir retten die Ukraine. Wir sind an der Seite der USA für die Freiheit von Taiwan. Das kann man alles machen. Nur jetzt ist die Wirtschaft ins Rutschen gekommen. Die Deindustrialisierung hat an Fahrt aufgenommen und die Prognosen für die deutsche Wirtschaft in den nächsten Jahren sehen nicht gut aus."

"In Wirklichkeit lebt man besser gemeinsam und kooperativ"

Philosoph Hanno Sauer
Philosoph Hanno Sauer | Bild: MDR/ttt

Eine Verteidigung der Moral liefert Hanno Sauer in seinem gleichnamigen Buch. Der Philosoph beschreibt, wie sich unsere Moralvorstellungen entwickelt haben, welche Bedeutung sie für das Entstehen moderner Gesellschaften haben und wie Moral unsere Identität auch heute noch bestimmt. "Es gibt ja diesen berühmten Satz: 'Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.' Und damit soll angedeutet werden, dass Moral und Eigeninteresse im Widerspruch stehen. Das stimmt aber eigentlich gar nicht. In Wirklichkeit lebt man besser gemeinsam und kooperativ. Und es dient dem Selbstinteresse, jedenfalls auf lange Sicht, wenn man in größeren Gesellschaften lebt, die inklusiver, egalitärer und liberaler sind, die zu stabileren politischen Arrangements führen und in denen man auch mehr Spaß haben kann."

Die Erfindung von Gut und Böse – Moral als Überlebensstrategie

Muss man sich Moral leisten können? Oder ist sie die Voraussetzung für unseren Wohlstand? Der Ursprung der Moral liegt etwa fünf Millionen Jahre zurück. Entwickelt als Überlebensstrategie unserer noch nicht menschlichen Vorfahren machte sie uns zu einer überaus erfolgreichen, weil kooperativen Spezies. In seinem Buch "Moral" beschreibt der Philosoph Hanno Sauer diese Evolutionsgeschichte bis hinein in die Gegenwart. Gut und Böse, sagt er, seien eine menschliche Erfindung: "Unsere Normen und Werte und das, was unsere moralische Infrastruktur ausmacht, finden wir nicht in der Natur irgendwo vor und können sie aufsammeln wie Kieselsteine oder chemische Elemente. Wir machen diese Werte gemeinsam. Wir organisieren unser Zusammenleben mit moralischen Normen, Werten, Ritualen, Institutionen. Und so schaffen wir es, die Vorzüge der Kooperation für uns einzuheimsen."

Das moralische Dilemma des Westens

Diese Vorzüge mit allen Menschen zu teilen, fällt uns allerdings schwer. Wir sind stolz auf unsere westlichen Werte, zu denen die Hilfe für die Schwachen und die Armen unbedingt dazugehören, stellen dann aber mehr oder weniger beschämt fest, dass wir unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden. Die Flüchtlingskrise stellt unsere westliche Wertegemeinschaft vor ein großes moralisches Dilemma. Fragen, wie "Wer gehört zu uns?", "Wer sind die?", "Wer gehört hierher?", "Wie wollen wir gemeinsam leben?" und "Wie betreffen bestimmte Entwicklungen wie Migration die Komposition unserer Gemeinschaft" träfen den "absoluten Kern unseres moralischen Denkens und Fühlens, an unser Wir-Gefühl. Es entstehen sofort Ängste, weshalb dieses Thema voller Konflikte ist."

Die "guten Werte" exportieren…

Die Diskrepanz zwischen dem Wunsch, das Gute zu tun und dabei das Richtige zu erreichen, gilt auch in der Politik. Was wiegt schwerer: Werte oder wirtschaftliche Vorteile? Und kann man unsere Werte, Bildung für Mädchen zum Beispiel, einfach exportieren? Das westliche Versagen in Afghanistan scheint das Gegenteil zu beweisen.

Laut Nahostexperte Lüders solle man sich immer vor Augen führen, wenn man über solche Länder wie Afghanistan, Irak, Russland, China nachdenkt: "Die dortigen Wahrnehmungen von Wirklichkeit können ganz andere sein als die unsrigen. Und man muss sehr aufpassen, gerade wenn man mit anderen Ländern und Kulturen zu tun hat, dass man nicht die eigenen Überzeugungen und moralischen Vorstellungen in die dortige Wirklichkeit hineinprojiziert. Man sollte sich stattdessen zunächst einmal nüchtern fragen: Was passiert denn dort gerade?"

… oder sich auf die eigenen Interessen rückbesinnen?

Politikwissenschaftler Michael Lüders
Politikwissenschaftler Michael Lüders | Bild: MDR/ttt

In seinem gerade erschienenen Buch "Moral über alles" fordert Michael Lüders eine "Rückbesinnung auf nationale Interessen". Er befürchtet, dass die Sanktionspolitik gegenüber Ländern wie Russland und Iran die deutsche Wirtschaft zerstören könnte. Das eigene Land, so Lüders, werde zumindest in Teilen auf dem Altar des Moralismus geopfert: "Es ist richtig, einen moralischen Kompass zu haben. Aber geht es wirklich immer um Moral? Oder geht es nicht manchmal auch um Gesinnungsethik? Häufig nehmen wir im Namen der Moral nur Missstände wahr, wo es in unser Weltbild passt, in unsere geopolitischen Interessen. Aber dort, wo das nicht der Fall ist, übersehen wir das. Also wird Moral instrumentalisiert oder ist sie in Anführungsstrichen 'ehrlich gemeint'?"

“Irgendetwas muss man tun” – Moral als Betriebssystem des Menschen

Philosophisch betrachtet gibt es keinen Ausweg aus dem moralischen Dilemma. Geeicht auf die Unterscheidung von Gut und Böse, besteht der Mensch auf Lösungen. Auch da, wo es möglicherweise keine gibt. Wer moralische Werte und Normen habe, wolle sie auch eingehalten sehen, sagt Sauer. Und wenn diese nicht eingehalten würden, müssten sie auch bestraft werden: "Wenn irgendjemand Flugzeuge in unsere Türme reinfliegt und es sterben dreitausend Menschen, dann zu sagen: 'Wahrscheinlich haben wir keine gute Option, irgendwie darauf zu reagieren, wir machen besser nichts", ist psychologisch so gut wie intolerabel. Das akzeptieren die Leute nicht. Irgendetwas muss man tun. Selbst wenn die Kosten dessen, was man als Reaktion darauf anzubieten hat, viel schlimmer sind als das, was überhaupt passiert ist."

Die Gegenwart stellt unser moralisches Wertesystem vor einige Herausforderungen, aber eine einfache Einteilung in Gut und Böse hat es sowieso noch nie gegeben. Die Bücher von Hanno Sauer und Michael Lüders, so verschieden sie sind, geben immerhin wichtige Denkanstöße zum Thema Moral.

Autorin: Petra Böhm

Buchtipps:
Michael Lüders: "Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen"
Goldmann, VÖ: 21. Juni 2023

Hanno Sauer: "Moral: Die Erfindung von Gut und Böse. Eine philosophische Geschichte zu moralischen Wertvorstellungen"
Piper, 2023

Stand: 19.06.2023 09:36 Uhr

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