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100 Jahre Türkische Republik

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100 Jahre Türkische Republik | Bild: Das Erste

Ein Land zwischen Europa und Asien, eine Republik gespalten in zwei Lager: Seit Mustafa Kemal Atatürk vor genau 100 Jahren mit brutaler Hand seine Kulturrevolution, eine moderne, am Westen orientierte und säkulare Türkei auf den Weg brachte, ist das Land am Bosporus nie zur Ruhe gekommen. Heute regiert mit Recep Tayyip Erdogan ein Präsident, der die Türkei zurück zu religiösen und nationalistischen Werten führt. Mit dem im Berliner Exil lebenden Journalisten Can Dündar, dem Historiker Ahmet Kuyas und dem Künstler Bedri Baykam, beide in Istanbul, blickt "ttt" auf ein Land, dessen jüngere Geschichte so dramatisch, gewalttätig wie faszinierend erscheint.

Die Türkische Republik feiert 100jähriges Bestehen

Journalist Can Dündar lebt in Berlin im Exil
Journalist Can Dündar lebt in Berlin im Exil | Bild: Das Erste

Istanbul in diesen Tagen: An vielen Plätzen feiern Anhänger von Mustafa Kemal Atatürk das Jubiläum der Republik, die er vor 100 Jahren gegründet hat. Die Türkei heute: Ein modernes Land. Die von Atatürk propagierte Trennung von Staat und Religion gilt weiterhin. Doch der in Berlin im Exil lebende Journalist Can Dündar sorgt sich um sein Land: "Ich glaube, die Leute feiern weniger die Republik und ihren 100. Geburtstag, als dass sie die Republik gegen den politischen Islam verteidigen wollen. Denn diese Republik ist in Gefahr, ersetzt zu werden durch ein als Republik verkleidetes islamistisches Regime."

Ein gespaltenes Land

Historiker Ahmet Kuyaş
Historiker Ahmet Kuyaş | Bild: Das Erste

Da sind Atatürk und seine Anhänger, die für die laizistische Republik stehen, und da ist Recep Tayyip Erdogan, der heute wieder einen islamischen Nationalismus propagiert. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs macht Atatürk Schluss mit Sultanat und Kalifat, setzt stattdessen die Emanzipation der Frauen und Bildung für alle durch. Es ist eine radikale Gesellschaftsreform nach westlichem Vorbild. Aber Demokratie – das dann doch nicht. "Atatürk war ein exzellenter Politiker – so einer, den es nur einmal gibt in 100 Jahren. Was bis heute viele damit nicht zusammenbringen – und es ist scheinbar auch ein totaler Widerspruch in sich – dass Atatürk zu seiner Zeit de facto ein Diktator war. Ein revolutionärer Diktator wird zur Symbolfigur der modernen Türkei", erklärt Historiker Ahmet Kuyaş.

Die Republik unter Atatürk

"Denkmal der Republik" in Istanbul
"Denkmal der Republik" in Istanbul | Bild: Das Erste

Atatürk setzt seine modernen Ideen auch mit militärischer Gewalt durch, schlägt den Widerstand ethnischer Minderheiten brutal nieder. Den Vater aller Türken vom Sockel holen, ihn als Mensch in all seiner Widersprüchlichkeit zeigen, das wollte Can Dündar schon in seinen Filmen und in einem Bildband. Atatürk war auch Alkoholiker und Frauenheld, er war größenwahnsinnig und am Ende einsam. Das Buch floppte. "Die Leute wollen nicht den wirklichen Atatürk. Sie wollen einen Atatürk, der die ganze Nation glücklich macht", erzählt Can Dündar.

Türkische Megaproduktion "Atatürk" kommt zum Jubiläum ins Kino

Journalist und Buchautor Can Dündar
Journalist und Buchautor Can Dündar | Bild: Das Erste

Dieses Bedürfnis bedient auch ein Film, die türkische Megaproduktion "Atatürk", die pünktlich zum Republik-Jubiläum ins Kino kommt. Es geht um dessen Aufstieg im schon taumelnden Osmanischen Reich – viel Hauen und Stechen, viel Heroisches, viel Glamour. In den USA wollte Disney das Werk streamen, zog dann aber nach Protesten zurück: Der Film lässt ein furchtbares Datum aus dieser Zeit unerwähnt. 1915, Völkermord an den Armeniern – nicht Atatürks Verbrechen, aber eines, über das auch er den Mantel des Schweigens breitete. "Für Deutsche ist das schwer zu verstehen. Deutschland hat sich seiner Geschichte gestellt – die Türkei leider nicht. Bis heute denken die Leute: Auch nur ein Wort über diesen Völkermord zu verlieren wäre ein Angriff auf die heutige Türkei. Doch das ist nicht wahr", so Journalist und Buchautor Can Dündar. Diese Geschichtsvergessenheit zieht sich von den Anfängen der Republik unter Atatürk durch die Jahrzehnte einander wechselnder Regierungen und Militär-Regime bis zu Erdogan und dessen rückwärts orientierter Vision einer islamischen Großmacht. "Ich nenne das: Erdogans Konterrevolution. Er zerstört die Errungenschaften der Republik, ersetzt sie durch seine Agenda", erklärt Dündar.

Kunstausstellung zum Jubiläum

Künstler Bedri Baykam
Künstler Bedri Baykam | Bild: Das Erste

Der Künstler Bedri Baykam stammt aus einer kemalistischen Familie. Zum Jubiläum hat er in Istanbul eine große Kunstausstellung organisiert. In der Türkei kennt man ihn als jemanden, der sich von niemandem einschüchtern lässt. "Jeder weiß, dass bei uns viele Journalisten im Gefängnis sitzen, dass man sich auf Social Media nicht frei äußern kann. Das ist unsere Realität. Wir haben elftausend Moscheen in der Türkei, aber unser Staat leistet sich nicht ein einziges Museum für moderne oder Gegenwartskunst. Dagegen in Deutschland, Frankreich, den USA oder Portugal: Hunderte! Wir sollten auch bei uns lieber Museen bauen statt Gefängnisse", so der Künstler.

Die Türkei zwischen West und Ost – zwischen Europa und Asien

"Die rissige Brücke über den Bosporus" von Can Dündar
"Die rissige Brücke über den Bosporus" von Can Dündar | Bild: Das Erste

Erdogan regiert inzwischen länger als der Gründer der Republik und überstand den Putsch des auf Atatürk eingeschworenen Militärs 2016 als Sieger. Der Kurdenkonflikt, Gewalt und Terror, Proteste, Unruhen: Erdogan versprach den Türken Sicherheit. Und gewann damit die Herzen vieler. Can Dündars neuestes Buch trägt den Titel: "Die rissige Brücke über den Bosporus". Die Türkei zwischen West und Ost, zwischen Europa und Asien, zwischen Blick nach vorn und Sehnsucht nach Vergangenheit: Wohin führt der Weg? Und: Was wird aus Atatürks Projekt der Moderne: dem Laizismus, der Emanzipation der Frau, der Trennung von Staat und Religion? "Leider lügen viele Befürworter dieser Rückbesinnung auf das Religiöse, wenn sie behaupten, der Säkularismus sei ein Affront gegen den Staat. Natürlich nicht! Aber die Religion gehört in die Moscheen, in die persönliche Sphäre der Menschen – nicht in die Politik, die Gesellschaft", erklärt Bedri Baykam.

100 Jahre Republik Türkei – wohin wird sich die Gesellschaft entwickeln?

Die Türkische Republik feiert 100jähriges Bestehen
Die Türkische Republik feiert 100jähriges Bestehen | Bild: Das Erste

Von der Hagia Sophia, unter Atatürk ein Museum, ruft seit 2020 wieder der Muezzin. Doch was denken die Türken wirklich über Gott und die Welt – die Republik, in der sie leben? "Die Republik ist unbestritten der gemeinsame Schatz aller Türken. Nur der Bruchteil von einem Prozent will das Kalifat zurück. So sehe ich die moderne Türkei: Sie muss erst ihre Stimme finden. Und dafür braucht es zuerst mal einen politischen Machtwechsel. Aber das – ist ein anderes Kapitel", so der Historiker Ahmet Kuyaş. 100 Jahre Republik Türkei – wohin sich die Gesellschaft entwickeln wird, darum wird im Land selbst heftig gerungen.

Autor: Andreas Lueg

Kinostart: 9. November
"Atatürk 1881 – 1919"
Regie: Mehmet Ada Öztekin

Buchtipp:
"Die rissige Brücke über den Bosporus"
Can Dündar
Verlag Kiepenheuer & Witsch

Stand: 29.10.2023 20:17 Uhr

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