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Wenn das Zuhause Tatort ist

Zunahme häuslicher Gewalt

PlayEine Frau kauert am Boden. Über ihr ein männlich gelesener Schatten.
Zunahme häuslicher Gewalt | Video verfügbar bis 16.07.2024 | Bild: picture alliance / PHOTOPQR/NICE MATIN/MAXPPP | Luc Boutria

Alle 45 Minuten wird eine Frau von ihrem Partner oder Expartner verletzt. Zuhause – da, wo sie sich sicher fühlen sollte. Doch genau da ist der Tatort. Im Vergleich zum Vorjahr ist häusliche Gewalt um 8,5 Prozent gestiegen, wie der aktuelle Bericht des BKA zeigt. Wieder einmal. Dabei gehört häusliche Gewalt schon lange zum Alltag in Deutschland. Und das, obwohl Fach- und Hilfsorganisationen seit Jahren zahlreiche Maßnahmen zur Prävention von und Unterstützung bei Häuslicher Gewalt fordern. Doch die Politik tut zu wenig.

Häusliche Gewalt um 8,5 Prozent gestiegen

Irina Unruh spricht in die Kamera.
"Die Erinnerung bleibt" heißt das Fotoprojekt von Irina Unruh. | Bild: Screenshot/NDR

Und noch immer sind Betroffene sozial stigmatisiert. Um das zu ändern, das Thema in die Mitte der Gesellschaft zu tragen, wo häusliche Gewalt längst stattfindet, hat sich jetzt die Initiative #DieNächste gegründet. Zum Auftakt zeigten 45 betroffene Frauen, aus allen Bereichen der Gesellschaft, ihr Gesicht. Seit drei Jahren fotografiert Irina Unruh zu häuslicher Gewalt. Schon Jahre vorher wurde sie mit dem Thema konfrontiert. Eine Freundin hatte den eigenen Partner angezeigt.

"Er bekam ein Annäherungsverbot von zwei Wochen und direkt nach dem Verbot, also als das Verbot aufgehoben war, hat er sie an am Tag darauf ermordet," erzählt Unruh. "Hat ihr aufgelauert, hat sie am helllichten Tag, sie kam gerade aus einer Pause, einer Mittagspause, und hat sie tatsächlich erstochen. Dass das einer engen Freundin passiert, oder eine enge Freundin aus Studienzeiten ermordet wird, das war ein Schock damals."

Viele Frauen schweigen aus Angst

Ein schwarz-weiß Foto einer Frau. Auf ihrem Kopf liegt ein toter Schmetterling.
Behutsam hat Unruh sich Betroffenen genähert. Mit nachdenklichen Bildern über ein weggeschobenes Problem. | Bild: Irina Unruh

"Die Erinnerung bleibt" heißt das Fotoprojekt. Behutsam hat sie sich Betroffenen genähert, nicht plakativ. Mit nachdenklichen Bildern über ein weggeschobenes Problem: "Wenn ich irgendwem erzählt habe, dass ich ein neues Projekt angefangen habe, bin ich auf viel Erstaunen gestoßen, wie: In Deutschland nie. Wir sind ja nicht in Italien oder in Spanien und dass man gerne auf Nachbarländer schaut und denkt: Ach ja, von anderen Ländern weiß man, da gibt es diese Problematik – aber in Deutschland doch nicht."

Aber es passiert, oft gleich nebenan. Viele Frauen schweigen aus Angst vor dem Partner – oder aus Angst vor Stigmatisierung. "Über das ganze Projekt hinaus habe ich immer wieder erlebt, dass mir gesagt wurde: 'Aber es soll keiner erfahren. Ich möchte auch nicht, dass meine Familie erfährt, dass ich meine Geschichte teile. Ich habe Sorge, dass das was macht mit uns als Familie, wenn das jemand rausbekommt.'"

Unglaube aus dem Umfeld

Vielen wird erst nicht geglaubt – wie Iris Brand. "Uns alle eint, das uns wirklich Unglaube entgegenschlug. Viele aus unserem sozialen Umfeld haben uns gesagt: Das kann doch gar nicht sein. Also bei dir kann ich mir das nicht vorstellen," erzählt Brand. "Häusliche Gewalt zieht sich quer durch die Gesellschaft. Also ist ganz unabhängig von Faktoren wie Bildung, Herkunft, Glauben, Alter. Es kann wirklich jeder der oder die Nächste sein."

Iris Brand hat deshalb mit weiteren Betroffenen die Initiative "DieNächste" gegründet. 45 couragierte Frauen outeten sich im Focus, quer durch alle Schichten. Eine Umfrage in ihrem Auftrag ergab: Zweidrittel der Deutschen glauben nicht, dass so etwas in ihrem Umfeld passiert. 20% machten sogar die Opfer zu Mittätern. "Das sind dann so Sätze wie 'Da gehören noch immer zwei dazu', 'Hast du ihn etwa provoziert?', 'Irgendetwas musst du doch gemacht haben?', 'Keiner schlägt doch einfach so zu?'. Und das ist Wahnsinn, das ist verrückt. Aber es ist einfach die Realität."

Jede vierte Deutsche erlebt häusliche Gewalt

Iris Brand spricht in die Kamera.
Iris Brand hat mit weiteren Betroffenen die Initiative "#DieNächste" gegründet.  | Bild: Screenshot/NDR

Die Realität: Jede vierte Deutsche erlebt häusliche Gewalt, jeden dritten Tag wird eine Frau umgebracht. Aber seit Jahren passiert fast nichts. 2019 trat Deutschland der Istanbul-Konvention bei. Die verlangt Prävention, die Zusammenarbeit von Behörden, mehr Frauenhäuser. Aber bei uns fehlen rund 15.000 Plätze, 8 von 10 Frauen werden abgewiesen.

"Das macht mich fassungslos. Und es macht mich sehr bestürzt, weil eine Frau, die den Weg ins Frauenhaus antritt, die flieht aus einer Notsituation heraus. Die packt ihre Sachen unter Todesangst," so Brand. "Wir fordern natürlich eine konsequente Umsetzung der Istanbul-Konvention, also das einfach mal eine ressortübergreifende Strategie gegen häusliche Gewalt erstellt wird und auch umgesetzt wird. Wir fordern Geld, das ist ganz klar, Frauenhausplätze kosten Geld."

Gesamte Gesellschaft muss für den Schutz der Frauen einstehen

Auch Irina Unruhs Projekt zeigt: Die gesamte Gesellschaft muss für den Schutz der Frauen einstehen – auch die Männer. Die hier beteiligten Frauen kämpfen dafür und zeigen viel Zivilcourage

"Ich hatte auch den Eindruck, dass es darum geht, dass sie ihre Geschichten erzählen, um anderen Frauen zu helfen, um weil sie auch das Gefühl haben, dass dieses Thema so stark in Deutschland tabuisiert ist," sagt Unruh. "Und solange ein Thema unsichtbar bleibt, kann es auch unsichtbar weitergehen. Ich glaube, dass es sich gesellschaftlich im Bewusstsein in unserer Gesellschaft sich sehr, sehr viel verändern muss."

(Beitrag: Thorsten Mack)

Stand: 17.07.2023 11:26 Uhr

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Norddeutscher Rundfunk
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