SENDETERMIN So., 11.06.23 | 23:05 Uhr | Das Erste

Russischer Angriffskrieg auf die Ukraine

Irrweg oder historische Konsequenz?

PlaySoldaten marschieren auf dem Platz vor dem Kreml.
Irrweg oder historische Konsequenz? | Video verfügbar bis 11.06.2024 | Bild: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Pelagia Tikhonova

Der Angriffskrieg auf die Ukraine ist zweifelsohne der Versuch Russlands, sich als Großmacht zu behaupten: nach innen und nach außen. Dahinter steckt – nicht erst seit Putins legendärer Rede über die historische Legitimierung dieses Krieges im Februar 2023 – eine lange Geschichte, die jetzt der renommierte Osteuropaexperte Martin Schulze Wessel in seinem neuen Buch aufrollt: "Der Fluch des Imperiums" (C.H. Beck). Putin ist kein Betriebsunfall, vielmehr steht er in der Tradition einer langen imperialen Geschichte Russlands, die mit Peter "dem Großen" anfing und im aktuellen Krieg kulminiert.

"Peter der Erste war der Begründer eines Imperiums, und Putin wird höchstwahrscheinlich der Totengräber dieses Imperiums sein," so Martin Schulze Wessel. Sein Buch "Fluch des Imperiums" gibt eine komplexe, spannende Antwort auf die Frage, wie es so weit kam. Er lehrt Osteuropäische Geschichte, erlebte das Ende der Sowjetunion in Moskau – als der Fluch hätte enden können.

"Einen bestimmten Großmacht-Status zu wahren"

Gemälde von Peter dem Großen von Jean Marc Nattier.
Es beginnt mit Peter dem Großen. Hier ein Gemälde von ihm von Jean Marc Nattier. | Bild: picture-alliance / akg-images | akg-images

"Der Fluch besteht darin, dass in Russland bestimmte Vorstellungen entstanden sind von der Aufgabe, die man hat," erklärt Schulze Wessel. "Die gesellschaftliche Aufgabe ist nicht, Demokratie zu sichern und Wohlstand zu mehren, sondern die Aufgabe ist, einen bestimmten Großmacht-Status zu wahren."

Wir sind ein Imperium, wir sind auserwählt - und der Westen ist der Gegner. Der Umgang Russlands mit Polen und der Ukraine seit dem 18. Jahrhundert spielt eine entscheidende Rolle bei der Entstehung dieses fatalen Selbstbilds. Es beginnt mit Peter dem Großen, der sein rückständiges Land modernisiert, St. Petersburg gründet – das Fenster zum Westen öffnet.

Ein neues Imperium?

Martin Schulze Wessel spricht in die Kamera.
Schulze Wessel lehrt Osteuropäische Geschichte, er erlebte das Ende der Sowjetunion in Moskau. | Bild: NDR/Screenshot

"Das ist aber nur die halbe Geschichte. Die andere Hälfte der Geschichte ist, dass Russland damals hegemonial geworden ist. Auch damals schon gegenüber Polen und der Ukraine," erklärt der Historiker. Russland ist damit ein europäischer Player. Katharina die Große gliedert die Ukraine in ihr Imperium ein und sichert sich ihren Anteil an Polen. Ein Schachzug mit weitreichenden Folgen.

"Nach den Teilungen Polens wurde Russland zu einer Macht, die an der Erhaltung des Status quo interessiert war," sagt Schulze Wessel. "Es ging im ganzen 19. Jahrhundert darum, die Polen daran zu hindern, ihre Vorstellung von polnischer Geschichte, ihre Vorstellung von Demokratie und Nationalstaat zu verhindern. Und damit begab sich Russland auf einen Weg, der höchst problematisch war."

Übersteigertes Selbstbild Russlands

Russland erstarrt autoritär – nach innen und nach außen. Der Aufstand der Polen 1831 wird niedergeschlagen. Viele im Westen bekunden ihre Solidarität. Daraufhin schreibt der russische Nationaldichter Alexander Puschkin ein Gedicht: "An die Verleumder Russlands". Der russische Außenminister macht heute daraus eine Warnung an die Unterstützer der Ukraine:

»Lasst uns in Ruh.
Die blutigen Tafeln der Geschichte sind nicht für euch.
Das hier ist slawischer Familien-Zwist.
Den Ihr niemals verstehen könnt.«

"Es ist schon sehr skurril, dass der russische Außenminister wie ein Pennäler ein Gedicht der russischen Klassik vorträgt, aber es ist gleichzeitig enorm politisch," meint Schulze Wessel dazu. Von seinem übersteigerten Selbstbild kann Russland nicht lassen, auch als die SU auseinanderbricht. Der Fluch, sich als von der Geschichte berufenes Imperium zu sehen und entsprechend zu agieren, wird nicht überwunden. Während Staaten wie die Ukraine sich in Richtung Demokratie entwickeln, verharrt Russland.

Ein Großreich der Verwüstung

Das Cover des Buches "Der Fluch des Imperiums" von Martin Schulze Wessel.
Historiker Martin Schulze Wesel rollt Russlands Geschichte auf. | Bild: Verlag C.H.Beck

"Was man damals nicht gesehen hat, auch wenn man im Lande war, war das schon damals sich die Kreise formierten, die den Zerfall der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe ansahen," so Schulze Wessel. "Die 90er Jahre waren dann auch erkennbar ein Jahrzehnt extremer politischer Radikalisierung, von der man gehofft hat, dass sie nicht politisch wirksam werden würde."

Aber sie wurde es – in Gestalt des Mannes, der Russland in eine Diktatur verwandelt hat. Ein neues Imperium? Ein Großreich der Verwüstung. "Dieser Fluch wird sicher nur dann bewältigt, wenn Russland eine Niederlage erleidet, wenn das Regime von Putin radikal delegitimiert wird. Und das halte ich für nicht unwahrscheinlich, dass genau dies eintritt." Aber wann das passieren könnte – das vermag auch Schulze Wessel nicht zu sagen.

"Der Fluch des Imperiums"
von Martin Schulze Wessel
ISBN: 978-3-406-80049-8
Preis: 28 Euro

(Beitrag: Lennart Herberhold)

Stand: 11.06.2023 17:58 Uhr

4 Bewertungen
Kommentare
Bewerten

Kommentare

Kommentar hinzufügen

Bitte beachten: Kommentare erscheinen nicht sofort, sondern werden innerhalb von 24 Stunden durch die Redaktion freigeschaltet. Es dürfen keine externen Links, Adressen oder Telefonnummern veröffentlicht werden. Bitte vermeiden Sie aus Datenschutzgründen, Ihre E-Mail-Adresse anzugeben. Fragen zu den Inhalten der Sendung, zur Mediathek oder Wiederholungsterminen richten Sie bitte direkt über das Kontaktformular an die ARD-Zuschauerredaktion: https://hilfe.ard.de/kontakt/. Vielen Dank!

*
*

* Pflichtfeld (bitte geben Sie aus Datenschutzgründen hier nicht Ihre Mailadresse oder Ähnliches ein)

Kommentar abschicken

Ihr Kommentar konnte aus technischen Gründen leider nicht entgegengenommen werden

Kommentar erfolgreich abgegeben. Dieser wird so bald wie möglich geprüft und danach veröffentlicht. Es gelten die Nutzungsbedingungen von DasErste.de.

Sendetermin

So., 11.06.23 | 23:05 Uhr
Das Erste

Produktion

Norddeutscher Rundfunk
für
DasErste