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Das Buch „Hinter Mauern“

Über europäische Asylpolitik und die Frage, warum geschlossene Grenzen unsere offenen Gesellschaften bedrohen

PlayFlüchtlingsboot im Mittelmeer vor der griechischen Küste.
Das Buch "Hinter Mauern" | Video verfügbar bis 02.07.2024 | Bild: picture alliance / ANE / Eurokinissi | Griechische Küstenwache / Eurokinissi

Ikonische Bilder, die sich in unser Gedächtnis eingebrannt haben und die eine Geschichte erzählen – über extreme Ungleichheit, Not, Verzweiflung, über das Antlitz der europäischen Abschottung und darüber, wie liberale Demokratien ihre eigenen Regeln brechen. 

Vor der griechischen Küste ereignete sich gerade wieder eine Katastrophe. Hunderte Menschen ertrinken, nur wenige überleben. Einige von ihnen werfen der griechischen Küstenwache vor, sie habe zum Sinken des Schiffes beigetragen. Und was macht Europa? Verhandelt mit autokratischen Staaten, Migranten gegen viel Geld aufzuhalten oder zurückzunehmen.

Die EU und ihre Abschreckungsarchitektur

„Es gibt eine Abschreckungsarchitektur, durch die Lager, durch die vielen Toten“, sagt Volker Heins. Er forscht schon lange zur Migration. „Und es gibt einen zynischen Diskurs darüber, dass eigentlich die Wirkung, auch dieses Schiffsunglücks eigentlich eine willkommene ist, weil man eben hofft, dass sich bitte bestimmte Leute nicht auf den Weg machen. Und die Botschaft auch dieses jüngsten Asylkompromisses ist eigentlich: Ihr seid zu arm, zu schwarz, zu viele. Wir wollen euch nicht. Wir wollen andere.“

Zusammen mit Frank Wolff hat Heins ein Buch darüber geschrieben, wie die Abschottung Europas gegen Flüchtlinge unsere eigene Gesellschaft verändert. Die Gewalt und die Rechtlosigkeit an den Grenzen wirke in die Gesellschaft hinein, so Heins.

„Wir beobachten die Kriminalisierung der Seenotrettung seit Jahren. Es gibt das Wort von der ‚Anti-Abschiebe-Industrie‘. An den Grenzen operiert Frontex, aber auch die jeweiligen Grenzschutzbehörden operieren teilweise ohne jede Kontrolle. Es gibt Übergriffe, denen keine Untersuchungen folgen.“

Der Politikwissenschaftler erklärt weiter: „Es gibt Berichte von regelrechter Folter in Kroatien, ohne dass es Konsequenzen gibt. Es gibt eine systematische Straflosigkeit für diese Beamten. Das sind nicht nur einzelne Übergriffe oder Unglücke, die wir beobachten, sondern wir sehen einen systematischen Abbau von Rechtsstaatlichkeit.“

Der Begriff der „Irregulären Migration“ ist ein Trugbild

Das Recht auf Asyl werde verwehrt, das auf der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention basiert, und das internationale Seerecht wird missachtet, das sagt: Einem Schiff in Not muss geholfen werden. Einige Politiker und Medien würden mit Begriffen wie „illegale“ und „irreguläre“ Migration den Boden bereiten für die Infragestellung von Menschenrechten“.

„Wir reden heute von irregulärer Migration. Das ist eigentlich ein Begriff, der erst ungefähr vor 20 Jahren überhaupt aufgetaucht ist. Vorher gab es das überhaupt nicht. Jetzt gibt es dieses Phantasma der irregulären Migration, was eigentlich ein Begriff ist, der sich mit Frontex zusammen entwickelt hat und der inzwischen die Köpfe beherrscht“, erklärt Heins.

„Irregulär“ deutet die Schutzsuchenden in Kriminelle um, die Gewalt gegen sie an den Grenzen scheint so gerechtfertigt. Wir stumpfen ab und verhärten uns in der Folge auch gegenüber den Eingewanderten, die schon in Europa leben, sagen die Autoren. Dabei seien es gerade die geschlossenen Grenzen, die Rassismus innerhalb unserer Gesellschaft verstärken.

„Es ist eine alte These, dass der Rassismus reagiert auf zu viel Zuwanderung. Immer mehr Leute kommen rein und die Leute werden rassistisch oder völkisch und wählen rechte Parteien“, sagt Heins. „Und wir sagen: Das ist eine sehr problematische These. Was man schon daran sieht, dass Länder wie Ungarn, die eigentlich überhaupt niemanden reinlassen, die keine Flüchtlinge anerkennen, extrem illiberal sind und die Angst vor Zuwanderung ins Unermessliche steigt, obwohl niemand kommt. Das heißt, der Rassismus ist eine Fortsetzung der Anstrengungen, Grenzen zu schließen im Innern unserer Gesellschaft und nicht eine Konsequenz der Öffnung von Grenzen.“

Der neue Asylkompromiss der EU immunisiert uns gegen Mitmenschlichkeit

Eine militarisierte politische Sprache, die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und das sukzessive Fernhalten von Journalisten aus Grenzgebieten und Flüchtlingslagern immunisiere uns gegen Mitmenschlichkeit. Dafür steht auch der neue Asylkompromiss der EU, eine Verschärfung der Asylpolitik, die Ungarn und Polen nicht mal weit genug geht: Geflüchtete, auch Familien mit Kindern, sollen in streng gesicherten Asylzentren schon an den Außengrenzen registriert werden, Abgelehnte direkt abgeschoben, alle anderen verpflichtend auf die EU-Länder verteilt werden. Wer keinen aufnimmt, soll stattdessen Geld zahlen. Ein Kompromiss, meilenweit entfernt von Europas Gründungs-Gedanken.

„Europa begann mit einer starken Friedensidee nach dem Zweiten Weltkrieg. Frieden sollte auch mehr sein als die bloße Abwesenheit von Krieg. Die Idee war, Frieden in einem umfassenden Sinne herzustellen, dadurch, dass man die Grenzen durchlässiger macht. Stattdessen beobachten wir das Gegenteil, dass Europa in diesen alten Modus zurückfällt die Außengrenzen so zu schützen und so zu sichern, als ginge es um die Abwehr eines militärischen Feindes.“

Es geht aber um Zivilisten, um Menschen, die alle ihre Fluchtgründe haben. Hautfarbe und Religion spielten bis heute eine Rolle dabei, wem in Europa humanitäre Hilfe gewährt werde. Und die ursprüngliche Idee von Frieden heiße inzwischen vor allem Frieden vor denen, die nach Europa wollen. Für Volker Heins und Frank Wolff ist das eine Verkehrung des europäischen Versprechens. Durch Abkommen mit Drittländern wie Tunesien wird sich die Gewalttätigkeit und Willkür an den Grenzen nicht ändern, sie rückt vielmehr noch weiter aus dem Blick. Statt sich auf Kosten von Menschenleben abzuschotten, brauche es andere Lösungen.

Die Frage lautet: Welches Europa wollen wir eigentlich?

„Wir plädieren für eine Humanisierung der Grenzen. Außerdem sind wir für eine Liberalisierung. Wir sind dafür, dass es mehr legale Migrationswege gibt, dass es leichter gemacht wird, für Menschen gleichermaßen aus aller Welt einzuwandern, um sich Arbeit zu suchen oder Ausbildungsplätze zu bekommen. Und zuletzt auch für eine Demokratisierung, dass sozusagen mehr Leute beteiligt werden an der Frage, wie eigentlich unsere Grenzen gestaltet werden sollen.“

Unter anderem auch die Menschen, die seit Jahren in Lagern auf einen Bescheid warten, schlagen die Autoren vor. Aber statt Geflüchtete in die Gesellschaft hineinzuführen, würden Abermilliarden für die Verhinderung von Integration ausgegeben und für Mauern, um uns vor ihnen zu schützen. Dabei können Mauern Flüchtende kaum abhalten. Nur um den Preis von Gewalt und Tod. Was also tun?

„Die Forderung ist nicht offene Grenzen, sondern die Forderung ist eigentlich, rechtsstaatliche Normen und diese Gewalt und Rechtlosigkeit an den Grenzen zu beenden. Wenn wir den jetzigen Kurs weiterfahren, Gesellschaften hinter Mauern sozusagen aufzubauen, die sich einigende europäische Gesellschaft hinter Mauern aufzubauen, werden wir eine zunehmende Verrohung, ein Abbau der Rechtsstaatlichkeit, nicht abnehmende, sondern zunehmende rechtsextreme Mobilisierungen erleben. Wir müssen uns fragen: Welches Europa wollen wir eigentlich?“

Die Zukunft unserer Demokratie sei auch damit verknüpft, ob wir die Menschenrechte für alle gleichermaßen gelten lassen.


Beitrag: Grete Götze

„Hinter Mauern: Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft“
Volker M. Heins und Frank Wolff
Suhrkamp Verlag, 2023
18,00 Euro

Stand: 02.07.2023 23:05 Uhr

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