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Die Skulpturen der Nairy Baghramian

PlayEine Frau mit kurzen, dunklen Haaren formt eine Skulptur mir ihren Händen
Die Skulpturen der Nairy Baghramian | Bild: BR

Wenn Nairy Baghramian ein Rohr biegt, ist das nur der Anfang. Sie wird es kombinieren mit Stein, vielleicht Wachs oder Aluminium. Besuch in ihrem Berliner Studio. Von der internationalen Kunstwelt wird sie gefeiert. Ihre Arbeiten verweigern sich einfachen Erklärungen.

"Der Kopf ist voll mit Fragen und Kunst hilft, keine Antworten zu finden", sagt Nairy Baghramian. "Kunst machen hilft, sie zu sortieren und durcheinander zu bringen. Aber in meinem Falle ist es tatsächlich 'sortieren'."

Menschen sollen ihre Skulpturen berühren

Fassade eines Museums
Am New Yorker Metropolitan Museum | Bild: BR

Als erste Deutsche darf sie gerade die Außenfassade des New Yorker Metropolitan Museums gestalten. "Scratching the Back" - "Am Rücken kratzen". Die Nische. Kunsthistorisch oft ein Ort für religiöse oder repräsentative Statuen. Baghramians Skulpturen sind das Gegenteil: eine antimonumentale Geste.

"Wie ein schönes, lautes 'Guten Morgen'. Wie so ein Schrei aus dem Haus, um auf die Institution aufmerksam zu machen", sagt Nairy Baghramian. "Ich will die Nische nicht als repräsentativen Ort nutzen, sondern als Händereichen."

"Freiheit muss man pflegen"

Eine Frau gibt ein TV-Interview
Baghramian im "ttt"-Interview | Bild: BR

Baghramian will, dass Menschen ihre Skulpturen berühren. Ihre Werke sollen in den Alltag und ihre Umwelt hineinwachsen. Sie sind offen. Jedem erzählen sie eine andere Geschichte. Ihre ist eine von Unabhängigkeit.

"Freiheit muss man sich erkämpfen und Freiheit muss man schätzen und Freiheit muss man pflegen und formieren und formulieren. Ich weiß jetzt nicht, ob ich jetzt explizit sagen kann, ob es in meinem Werk integriert ist, aber es wäre schade, wenn es nicht wäre. Sonst wäre es tote Materie."

Mit 14 Jahren flieht sie mit der Familie aus dem Iran

Ein Tisch
"Drawing Table" (2017) von Nairy Baghramian | Bild: Mathias Völzel

Auf der documenta 14 zeigt sie ihr Werk "The Iron Table" – entstanden 15 Jahre zuvor – und interpretiert es dort nochmal neu: "Drawing Table". Kunst als lebendiger Prozess. Im Ausland sind ihre Arbeiten deutlich öfter als in Deutschland zu sehen.

Gerade steht eine Skulptur von ihr im MoMa in New York, gleich neben Picassos Ziege. "'Nach Ausland gehen' ist für mich kein Ausland, es gibt ja sozusagen kein Inland für mich. Das Leben war für mich immer woanders. Ich gehe immer wieder von einem Ort zum anderen und das ist ein Glücksfall."

Berlin wird die neue Heimat

Eine Frau in einer Werkstatt
Baghramian im Studio | Bild: BR

Ihre kreative Heimat ist Berlin. Dorthin kommt sie mit 14 Jahren auf der Flucht aus dem Iran. Mit ihrer Familie wohnt sie zunächst auf engem Raum, muss sich neu orientieren. Sie ist die Jüngste von sechs Geschwistern. Die Bilder, die sie aus ihrer ersten Heimat Isfahan mitnimmt, bleiben: als Siebenjährige erlebt sie den Sturz des Schahs und die Entstehung eines "Gottesstaats".

"Ich habe eine sehr klare Erinnerung an diese Zeit. Die erste Frage war: 'Mama, warum rufen sie auf der Straße: Tod Amerika, Tod Israel, Tod dem Schah.'? Ich konnte nicht begreifen, warum man dem anderen den Tod wünscht und das hat mich auch geprägt."

Mutter ist Monarchistin, der Vater ein Linker

Ein Kunstwerk
Eindeutigkeit ist ihren Arbeiten fremd | Bild: BR

Zuhause wird viel um Politik gerungen: die Mutter Monarchistin, der Vater ein Linker. Das Aushalten und Begrüßen von Uneindeutigkeiten: das lernt sie in dieser Zeit. "Politische Erfahrungen, die ich in meiner Kindheit gemacht habe, dass die Realpolitik sehr schnelle Antworten sucht. Das Essentielle in der Kunst ist ja, dass man die Möglichkeit hat, der Zeit Raum zu geben, das heißt die Zeit soweit wie möglich zu dehnen."

Baghramians Werk lässt sich kaum für aktuelle Identitäts- oder Genderdiskurse instrumentalisieren, weil sie Eindeutigkeiten misstraut. Sie arbeitet mit Gegensätzen, wagt mal Dekoratives und leiht sich Ideen aus dem Industriedesign.

Ihre Arbeiten wirken Fragen, wie in eine Form gegossen

Eine Frau arbeitet an einem Schrei tisch
"Material hat eine Sprache" | Bild: BR

"Material hat selbst eine Sprache, die spricht und die muss man erstmal kennenlernen", sagt Nairy Baghramian. "Und wenn man die Sprache gelernt hat, dann ist man vielleicht gelangweilt, dann muss man zur nächsten Sprache."

Oft wirken ihre Arbeiten wie Vergrößerungen. Eine Frage, in eine Form gegossen. Spiel mit dem Rätsel. "Ich brauche unterschiedliche Fragen in einem Raum. Ich komme mit einer Frage nicht klar. Weil eine Frage erwartet auch immer eine Antwort und die gibt es meistens im Leben nicht." Die Welt in ihrer Uneindeutigkeit: im Werk von Nairy Baghramian ist sie zuhause.

Autorin: Antje Harries

Stand: 19.11.2023 21:16 Uhr

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