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Krieg und Exil. Ein Treffen mit Viktor Jerofejew in Berlin

PlaySchriftsteller Viktor Jerofejew
Krieg und Exil. Ein Treffen mit Viktor Jerofejew in Berlin | Video verfügbar bis 25.02.2025 | Bild: IMAGO / ITAR-TASS

Der weltbekannte russische Schriftsteller Viktor Jerofejew floh vor zwei Jahren mit Frau und Kind über die finnische Grenze und lebt im Exil in Berlin. Wie er haben etwa eine Million Russen seit Kriegsbeginn ihre Heimat verlassen. Zehntausende kamen nach Deutschland. Wie lange sie hierbleiben können oder bleiben müssen und ob sie jemals wieder zurückgehen werden, ist ungewiss.

Schwarz oder Weiß

Für Jerofejew war das keine einfache Entscheidung. Vor dem Krieg habe man mehr oder weniger neutral sein können, sagt er: "Niemand rannte einem hinterher und schrie, dass man das Land im Krieg verraten habe." Nun heiße es: "Schwarz oder Weiß. Sich Russland anschließen oder das Land verlassen."

In Berlin gibt es seit Jahrzehnten Hotspots und Treffs der russischen Emigrantenszene. Im Unterschied zu früheren Migrationswellen aber ist die aktuelle prekär. Die meisten mussten Hab und Gut zurücklassen. Dazu kommt kultureller Stress, wie Jerofejew weiter erläutert. Denn jeder wolle wissen: "Warum tun eure Landsleute das? Warum unterstützen 70 bis 80 Prozent Umfragen zufolge Putin?"

"Der große Gopnik": Roman über Russland im 21. Jahrhundert

Die Russen seien ein besonderer Zivilisationstyp, meint Jerofejew. Es gebe andere Regeln. Anerzogen durch die gesamte russische Geschichte und den Verlust vieler Werte. Dazu gehörten ständiges Misstrauen, Gleichgültigkeit. "Das, was wir auf Französisch 'Je m'en fous"-ismus nennen, also eine Scheiß-egal-Haltung."

Oder das "Gopnik-Gefühl", von dem Jerofejew in seinem letzten Buch schreibt. In "Der große Gopnik" verquickt Jerofejew die eigene Biografie mit der Wladimir Putins, wie der sich Stück für Stück an die Macht gaunert. Putin, der Anfang der 90er-Jahre noch Taxi fuhr, um etwas Geld dazu zu verdienen, umtriebig Kontakte knüpfend in die mafiösen Grenzwelten der Petersburger Gesellschaft.

"Gopnik ist ein unübersetzbares russisches Wort, es bedeutet etwa kleiner Rowdy, Hinterhofrabauke. Per definitionem kann ein Gopnik kein Großer sein. Doch ein bestimmter Gopnik hat Riesenschwein gehabt", erklärt Jerofejew. Putin sei tatsächlich ein kleiner Rüpel, der plötzlich eine weltweite Bedeutung erlangt habe.

Putin: Begegnung mit einem Mann voller Komplexe

Jerofejew weiß, von wem er spricht. Er ist Putin begegnet. Als Schriftsteller sollte er mit ihm zusammenarbeiten. Die Begegnung habe ihm geholfen zu verstehen, dass Putin voll von Kindheitskomplexen sei. Putin habe eine schwere Kindheit gehabt und diese nicht verarbeitet. Deshalb sei für ihn das Thema des Sieges sehr wichtig.

Im Buch schildert Jerofejew ein Treffen mit Putin und dem französischen Präsidenten Chirac in Paris, im Salon du Livre. Putin, schreibt Jerofejew, habe breitbeinig dabei gestanden wie ein Bodyguard. Und auf einmal habe Putin gesagt: "Warum reden Sie auf Französisch mit ihm?" Darauf Jerofejew: "Na, weil er der französische Präsident ist." Selbst in diesem Gespräch habe Putin geargwöhnt, dass es gegen ihn gerichtet sei.

Putin habe das Gefühl, die ganze Welt sei gegen ihn, sagt Jerofejew. Um seine Komplexe auszulöschen, müsse er die Opposition loswerden so wie zuletzt Nawalny. Die Komplexe würden dadurch freilich nicht verschwinden: "Wenn er diese Leute aus dem Weg räumt, kommen andere, dritte, fünfte, zehnte. Es werden immer mehr."

"Da ist überhaupt nichts, da ist nur Nebel"

Versteht man Russland besser, wenn man Putins Psyche kennt? Jerofejew skizziert in seinem Buch Mentalitätsverwerfungen, die lange zurückreichen. Den Leuten gehe es inzwischen wie unter Stalin, der zurzeit wieder populär wird. Stalin musste sterben, bevor das Tauwetter beginnen konnte. Wie wird es unter Putin ausgehen?

Im Vergleich mit Stalin sieht Jerofejew bei Putin einen entscheidenden Unterschied: Hinter Putin steht keine Ideologie. Hinter Stalin stand die Idee des Kommunismus. Das Versprechen einer besseren Welt für alle. Auch wenn die Idee falsch war, so Jerofejew, gebe es bei Putin gar keine bessere Aussicht: "Da ist überhaupt nichts, da ist nur Nebel."

Autor: Rayk Wieland

Buchtipp
Viktor Jerofejew: Der große Gopnik
Roman
616 Seiten
Matthes & Seitz


Stand: 25.02.2024 23:01 Uhr

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Mitteldeutscher Rundfunk
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