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Der globale Süden und die Ignoranz des Westens - Buch über eine sich wandelnde Weltordnung

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Die Ignoranz des Westens: Buch über eine sich wandelnde Weltordnung | Video verfügbar bis 08.10.2024 | Bild: ARD
Henrik Maihack, Politikwissenschaftler
Henrik Maihack, Politikwissenschaftler | Bild: Screnshot / NDR

In Niger putscht sich das Militär an die Macht - und Millionen jubeln, verbrennen dazu Flaggen der einstigen Kolonialmacht Frankreich. Der Westen staunte schon vorher in der UN: Viele südliche Staaten verweigerten sich der Verurteilung von Russland, als Putins Angriff auf die Ukraine geächtet werden sollte. Es geht um etwas sehr Symbolisches: das partnerschaftliche Handreichen - oder es zu unterlassen, sagt der Politikwissenschaftler Henrik Maihack: "Der russische Angriffskrieg war im globalen Süden eben nicht der entscheidendste Moment in dieser Zeit, sondern dort erholte man sich gerade von den Folgen der Corona-Pandemie, die die Staatshaushalte zu einer hohen Verschuldung gebracht haben. Und in dieser Krise, sowohl der Corona-Pandemie als auch der Verschuldungskrise, haben sie eben keine Solidarität aus dem Westen erfahren. Und nun erwartete der Westen aber Solidarität aus dem globalen Süden. Und dort fragte man sich, wo denn die Solidarität davor war." Zusammen mit seinem Kollegen Johannes Plagemann hat er ein Buch geschrieben: "Wir sind nicht alle", darin beschreiben sie, wie der globale Süden gegen den Westen aufbegehrt.

Muss Europa seine globale Rolle überdenken?

Olaf Scholz
Olaf Scholz | Bild: Screnshot / NDR

So forderte beispielsweise Subrahmanyam Jaishankar, der Außenminister Indiens: "Europa muss seine Haltung verändern: Dass seine Probleme die Probleme der Welt sind, aber dass die Probleme der Welt nicht seine sind." Henrik Maihack und Johannes Plagemann kennen unsere Ignoranz, oft auch Arroganz gegenüber dem Süden. Mit ihrem Buch wollen sie das ändern. Seit Jahren reisen sie im globalen Süden - das meint größtenteils ehemalige Kolonien, die nun aufbegehren gegen westliches, selbstbezogenes Verhalten, etwa wenn Impfstoffe gehortet wurden, sagt Henrik Maihack: "Sie haben erst keine Masken, dann keine Impfstoffe bekommen oder viel zu spät und haben gleichzeitig erlebt, dass andere Länder wie China und Indien das zwar in geringerer Qualität, aber dennoch geliefert haben. Und das hat zu großer Frustration geführt." Wegen der Ukraine wird jetzt der Handschlag gesucht, etwa mit Indien, das russisches Öl kauft. Und Bundeskanzler Olaf Scholz sendet einen Moralappell in seiner Rede vor dem indischen Premierminister Modi: "dass man nämlich nicht mit Gewalt Grenzen verschiebt, das nicht Macht, sondern das Recht die internationalen Beziehungen prägt."

Der Westen hat keine weiße Weste

Nur ist es ausgerechnet das Recht, dass der Westen mit dem Irakkrieg brach. Es geht um Doppelstandards. Im Kongo wurde der Diktator umgarnt - der vorige Premier und Freiheitskämpfer Lumumba "störte". Er wurde entführt und mit Hilfe Belgiens und der CIA 1961 erschossen. Der Westen fordert Moral, aber Wirtschaft geht vor. Auch beim Apartheits-Regime in Südafrika, als sich Reagan gegen Wirtschaftsbeschränkungen aussprach.

Die falschen Hände geschüttelt

Johannes Plagemann, Politikwissenschaftler
Johannes Plagemann, Politikwissenschaftler | Bild: Screnshot / NDR

Der Politikwissenschaftler Johannes Plagemann findet: "Das ist ein ganz wesentliches Element, was wir auch wieder in der Debatte um den Krieg in der Ukraine wahrgenommen haben. Im Kalten Krieg war es eben die Sowjetunion, die Unabhängigkeitsbewegungen in Mosambik, in Südafrika und in anderen Staaten unterstützt hat, während der Westen repressive Siedlerregime gestützt hat. Und das ist natürlich eine tiefsitzende Erinnerung, die sich nicht einfach wegwaschen lässt." Barbarisches Herrentum statt Partnerschaft, jahrhundertelang. Unser Reichtum basiert auch auf Versklavung und Ausbeutung des Südens. Selbst nach dem Abschied aus den Kolonien war es nicht vorbei. Danach presste die Weltbank den nun verarmten Ländern den Zugang zu Rohstoffen ab - mit ihrem Schuldendiktat. Entwicklungsgelder? Verblieben oft im Westen. Die westlichen Geberländer behalten gleich einen großen Anteil als Schuldentilgung ein.

Wer trägt die Kosten der Klimaerwärmung?

Und heute ist der globale Süden besonders vom Klimawandel betroffen - dabei geht der größtenteils auf westliche Emissionen zurück. Der Westen sei reich geworden über den Abbau von fossilen Brennstoffen und die Industrialisierung, findet Autor Johannes Plagemann und sagt: "Er tritt nun teilweise im globalen Süden auf, indem er den Staaten dort diesen Entwicklungsweg versperrt. Wegen des Klimawandels. Und das sorgt für eine hohe Frustration." Und Politikwissenschaftler Henrik Maihack fügt hinzu: "In der Klimakrise zeigen sich die Doppelstandards für viele im globalen Süden eben besonders deutlich."
Statt Einschränkung: Autokratenhände schütteln, für fossile Energie und Flüchtlingsabkommen. Die Autoren wollen eine andere Welt und dass wir vom Süden lernen – ihren Pragmatismus, jenseits alter Blöcke und Machtgefüge neue Partnerschaften zu etablieren. Und das ganz ohne Arroganz, wie Johannes Plagemann fordert: "Das wird auch für uns in Zukunft wichtiger sein, weil es eben so viele andere Staaten mittlerweile gibt, die für uns, für unsere Probleme, für unsere Interessen von Bedeutung sind. Der globale Süden rückt uns näher, und das heißt, wir müssen auf ihn eingehen."

Stand: 09.10.2023 21:32 Uhr

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