So., 05.11.23 | 23:35 Uhr
Das Erste
Das Leben feiern – Dokfilm "Miss Holocaust Survivor"
Regisseur Radek Wegrzyn begleitet Holocaust-Überlebende zum Catwalk
Probe für einen der merkwürdigsten Schönheitswettbewerbe der Welt. Zwölf Frauen im Alter von 75 bis 95 Jahren flanieren einen Laufsteg entlang. Sie tragen ihre schönsten Kleider, Schmuck und Make-up und geben mit ihren gealterten Gesichtern und zerbrechlichen Körpern dem Wettbewerb einen ganz eigenen Witz – und eine besondere Würde.
Im Wettbewerb geht es darum, das Leben zu feiern
Die Idee dazu entstand in einem Altenheim für Holocaust-Überlebende in Haifa. Ein Viertel von ihnen lebt in Israel unterhalb der Armutsgrenze und die Einrichtung bewahrt sie davor, ihre letzten Tage in Armut zu verbringen. Die Vorbereitungen für die Misswahl sorgen erstmal für gute Laune. "In dem Wettbewerb geht es darum, das Leben zu feiern", erklärt Regisseur Radek Wegrzyn: "Mir war es unglaublich wichtig, das Ganze würdevoll zu porträtieren. Ich möchte die Ernsthaftigkeit und die Tiefe, die ich in diesem Thema sehe, zeigen, aber auch die Lebensfreude und Leichtigkeit, die ja in diesem 'Schönheitswettbewerb' zu finden ist."
Als Kind überlebte Rita 19 Monate in einem Erdloch
In seinem Dokumentarfilm stellt Radek Wegrzyn die Lebensgeschichte von zwei sehr unterschiedlichen Frauen in den Mittelpunkt: Rita und Tova. Rita kam 1974 nach Israel. Sie war Religionslehrerin, Psychiaterin und ist Malerin bis heute. Ein bewegtes Leben, drei Berufe, dreimal verheiratet.
In der Malerei verarbeitet sie ihre frühesten Erlebnisse aus der Kindheit – die Erinnerungen holen sie bis heute ein, vor allem an die 19 Monate, die sie sich in einem Erdloch verstecken musste: "Meine Familie und ich versteckten uns mit mehr als 20 anderen im Wald. Ich erstickte fast am Geruch so vieler Menschen, zusammengepfercht in einer kleinen Höhle. Kinder weinten und ihre Eltern erstickten sie beinahe, damit sie still sind."
Im Film spricht Rita erstmals davon, wie sie als Achtjährige versuchte, sich das Leben zu nehmen: "Manchmal, wenn mein Vater alte Kleidung mit vielen Knöpfen mitbrachte, habe ich sie alle geschluckt, um mich umzubringen." Doch sie wurde gerettet: "Mir wurde Schweinefett zubereitet, dass ich trinken musste. Ich bekam Durchfall und meine Mutter zählte die Knöpfe. Sie kamen alle heraus und ich blieb am Leben."
Nie mehr Opfer sein!
Tova ist dieses Jahr 100 Jahre alt geworden. Sie trainiert noch heute jeden Tag im Fitnesscenter. Sie habe dem Staat Israel, so sagt sie, acht Soldaten geschenkt. In Konzentrationslagern überlebte sie Vergewaltigung und Misshandlungen. Ihren Kindern erzählte sie davon erst, als sie erwachsen waren. Sie hat sich eines geschworen: In ihrem Leben nie mehr wehrlos und Opfer zu sein.
Auch sie teilt im Film ihre schrecklichen Erinnerungen, die sie bis heute in Tränen ausbrechen lassen: "Plötzlich kam der Aufseher und fragte: 'Wer hat Zahnschmerzen? Der Zahnarzt ist da.' Ich antwortete erleichtert: 'Ich habe Zahnschmerzen.' Weißt du, was sie mir angetan haben? Sie zogen alle meine Zähne. Der schmerzende Zahn blieb drin. Die restlichen haben sie gezogen. 14 Zähne haben sie gezogen."
Makaber oder ermutigend?
In Israel gab es vereinzelt Kritik, makaber und würdelos wäre das Ganze. Doch die Frauen haben sich entschieden, dabei zu sein. Als sie Mädchen waren, wurden ihre zu einer Art Schlachtfelder gezeichnet von Hunger, Vergewaltigung und vielem mehr. Jetzt im hohen Alter werden sie hübsch gemacht für eine Misswahl. Was auf den ersten Blick skurril erscheint, findet seit 2012 im israelischen Haifa statt, initiiert von einer Traumatherapeutin, die so die Frauen zur Auseinandersetzung mit den in der Kindheit erlittenen Verlusten ermutigen will.
Auch Regisseur Wegrzyn möchte lieber den Frauen selbst überlassen, ob es für sie okay ist, sich auf der Bühne zu zeigen. Einer kleinen Jury erzählen die Frauen, was sie erlebt haben und wie sie überlebt haben. Schmerzvolle Erinnerungen brechen wieder auf, doch am Ende stehen alle auf der Bühne, um zu zeigen: "Wir stehen hier und lächeln, denn wir sind am Leben."
"Es muss einen Sinn geben"
Radek Wegrzyns Film endet nicht mit der Misswahl, er zeigt auch, wie der Alltag im Altenheim weiter geht. Am Ende fragt er Rita, wie sie auf ihr Leben blickt, ob Rita daran glaube, dass das, was ihr widerfahren ist, einen Sinn habe. Für sie ist klar: "Es gibt für mich kein: 'Es gibt ihn', sondern: 'Es muss ihn geben.' Ich kann ihn nicht sehen, nicht hören, nicht fühlen. Aber es muss ihn geben. Warum all das?"
Autor: Matthias Morgenthaler
Stand: 09.11.2023 14:26 Uhr
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