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Wie das Gehirn Erinnerungen verarbeitet

Zechnung eines Kopfes mit den Arealen Hippocampus und Cortex.
Im Schlaf kommunizieren die beiden Hirnareale Hippocampus (Kurzzeitgedächtnis) und Neocortex (Langzeitgedächtnis) miteinander und entscheiden, welche Informationen abgelegt und mit welchen, bereits vorhandenen Informationen verknüpft werden. | Bild: NDR

Dinge, die unser Gedächtnis speichert, müssen einen komplizierten Auswahlprozess überstehen. Zunächst landen Wahrnehmungen im Ultrakurzzeitgedächtnis. Dort bleiben sie aber nur 0,1-2 Sekunden. In dieser Zeit entscheidet das Gehirn, was wichtig sein könnte und was nicht. Irrelevante Informationen verblassen und verschwinden aus unserer Erinnerung. Die Inhalte, die unser Gehirn zumindest mittelfristig als interessant oder sogar wichtig einstuft, übernimmt es ins Kurzzeitgedächtnis. Dieses bewahrt Inhalte immerhin für einige Minuten. Während dieser Zeit findet eine Bewertung und Einordnung der Informationen statt. Die als relevant eingestuften Dinge gelangen ins Langzeitgedächtnis. Aber auch da sind sie nur dann zuverlässig abgespeichert und langfristig wieder abrufbar, wenn der Proband eine "Nacht darüber geschlafen" hat.

Kenne ich, merk' ich mir!

Bei der Auswahl der Informationen, die "gespeichert" werden, spielt die Anknüpfbarkeit der neuen Informationen an bereits abgespeicherte Inhalte eine wichtige Rolle. Reize, die bereits vorhandene Inhalte bestätigen, verfestigen oder ergänzen, werden eher gemerkt, als Informationen, die völlig neu sind und keine Verbindungen zu bekannten Inhalten haben. Dinge, die per se als wichtig erkannt werden, weil sie zum Beispiel unser Leben bedrohen oder für unseren Fortbestand in Gruppen von Bedeutung sind, werden ebenfalls zuverlässig abgespeichert. Sind diese Wahrnehmungen emotional aufgeladen und eventuell noch mit weiteren Sinnesreizen (Gerüchen, Melodien, Bewegungsmustern…) verknüpft, werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit von unserem Gehirn ausgewählt und über die verschiedenen Stufen ins Langzeitgedächtnis transferiert. In der nächsten Phase der Gedächtnisbildung festigt unser Gehirn die Dinge, die es im Langzeitgedächtnis möglichst dauerhaft konservieren will.

Während du schliefst

Schlaf ist wichtig für die Gedächtnisbildung. Diese Erkenntnis ist mittlerweile in der Forschung anerkannt. Deshalb kombinieren Wissenschaftler wie Prof. Jan Born vom Institut für medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie der Universität Tübingen ihre Forschung auch mit Untersuchungen im Schlaflabor. Born lässt Probanden unterschiedliche Dinge lernen und fragt dann das Wissen ab. Eine Teilnehmergruppe lernte abends und wurde dann am nächsten Morgen abgefragt, eine Kontrollgruppe sollte morgens lernen und wurde am Abend abgefragt, ohne zwischenzeitlich geschlafen zu haben. Bei beiden war die Zeitspanne zwischen Lernen und Abfrage gleich. Die Probanden, die "darüber geschlafen" hatten, konnten im Test mehr Gedächtnisinhalte wiedergeben als die Kontrollgruppe.

Natürliche Intelligenz schiebt Nachtschichten

Offenbar organisiert sich das Langzeitgedächtnis im Schlaf. Die Messungen der Hirnströme zeigen auch, wann das passiert: In der Tiefschlafphase. Im Gegensatz zur REM-Phase, in der man lebhaft träumt, galt die Tiefschlafphase lange als uninteressante und inaktive Zeit. Tatsächlich "unterhalten sich" der Zwischenspeicher im Hippocampus und das Langzeitgedächtnis in der Großhirnrinde und tauschen Daten aus. Dabei übernimmt unser Gehirn Inhalte, die es für wichtig hält. Es reagiert sogar relativ kurzfristig: In einem Experiment haben Wissenschaftler aus dem Team von Prof. Jan Born zwei Gruppen von Studenten abstrakte Inhalte auswendig lernen lassen. Kurz vor dem Schlafengehen wurde die eine Gruppe darüber informiert, dass das Wissen am folgenden Tag abgefragt werden würde.

Das kluge Hirn kaut vor

Proband mit Sensoren zur Messung der Hirnströme im Schlaflabor.
In der Tiefschlafphase übernimmt unser Gehirn Inhalte, die es für wichtig hält. | Bild: NDR

Die Probanden dieser Gruppe schnitten in dem Test am nächsten Tag besser ab als die Ahnungslosen. Offenbar hatte die Zusatzinformation dazu geführt, dass das Gehirn die gelernten Inhalte als wichtig und behaltenswert eingestuft und dauerhaft ins Langzeitgedächtnis übernommen hatte. Informationen werden zudem besser behalten, wenn sie emotional verknüpft sind. Das Team von Prof. Jan Born hat Kindern und Jugendlichen Fotos gezeigt, die sie später wiedererkennen sollten. Die Probanden sollten zudem angeben, wie emotional sie von den Bildern berührt waren. Fotos von Autounfällen, aggressiven Hunden oder eine Pfütze aus Erbrochenem wurden als negativ wahrgenommen, Fotos von Bäumen, Socken oder Straßen hingegen als neutral. Die Bilder mit emotionaler Aufladung wurden häufiger erinnert als die "neutralen" Bilder.

Vergiss es! Warum wir nicht alles behalten (sollten)

Vergessen gilt in unserer Gesellschaft generell als negativ. Die Demenz, der krankhafte Verlust der Erinnerung, macht die Betroffenen hilflos und schürt Ängste. Dabei übersehen wir, dass nahezu jeder Mensch täglich Erinnerungen löscht und modifiziert. Das ist ganz normal. Unser Gehirn würde sonst überquellen und wäre kaum noch in der Lage, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Es gibt wenige Beispiele, bei denen Menschen nicht in der Lage sind, zu vergessen. Die Amerikanerin Jill Price zum Beispiel, erinnert sich seit fast 40 Jahren an jeden Tag ihres Lebens - inklusive aller Details. Es gibt auch andere solcher Fälle. Der Russe Solomon Schereschewski besaß ebenfalls ein Gedächtnis das nicht vergessen konnte. Für die Betroffenen ist das quälend. Sie haben in der Gesellschaft häufig Probleme und verhalten sich oft eigenbrötlerisch. Man kann sich ihr Gedächtnis vielleicht wie die Wohnung eines Messis vorstellen, der nicht in der Lage ist, Dinge wegzuwerfen. Der Kopf der Betroffenen ist übervoll mit Informationen, die sie gar nicht brauchen. Und es ist schwer in diesem Datenwust die wichtigen Dinge zu finden. Vergessen ist also essentiell für uns Menschen.

Echt jetzt?

Schematische Darstellung der neuronalen Netzwerke im menschlichen Gehirn.
Der Mensch besitzt 100-200 Milliarden Gehirnzellen. | Bild: NDR

Unser Gehirn "überarbeitet" unsere Erinnerung ständig. Jedes Mal, wenn wir eine "hervorkramen" besteht die Möglichkeit, dass sich der Gedächtnisinhalt dadurch verändert. Neue, ähnlich gelagerte Erinnerungen können sie ergänzen oder gar ersetzen. Das gilt sogar für Einflüsse von außen, wie Filmszenen oder Erzählungen. Auch sie können sich mit unseren Erinnerungen vermischen und dann zu einem verfälschten Gedächtnisinhalt führen. Die aktive Nutzung von Gedächtnisinhalten birgt also die Gefahr, dass sie verändert abgespeichert werden. Inhalte die wir nicht regelmäßig abrufen sind allerdings auch nicht sicher. Erinnerungen werden in Netzwerken an unterschiedlichen Orten unseres Gehirns abgelegt, gespeichert in Neuronen, die durch Leiterbahnen, die sogenannten Synapsen zusammengeschaltet sind. Wenn wir Gedächtnisinhalte abrufen, stärken wir diese Vernetzungen. Nutzen wir die Inhalte lange Zeit nicht, "verblasst" (die Erinnerung an) das Wissen. Die Verbindungen zwischen den Neuronen sind nicht mehr so stark. Die Informationen lagern zwar noch in unserem Hirn, sie sind aber nicht mehr einfach abrufbar.

Ein Ball ist ein Ball, ist ein Ball.

Ein weiteres Prinzip von Gedächtnisbildung ist das Erkennen von Mustern, Prinzipien und Regeln. So müssen wir uns nicht jeden Ball und seine Eigenschaften neu merken, wenn wir erst einmal begriffen haben, wie ein Ball aussieht und wie er sich verhält. Ähnliches gilt für Stühle, Tische usw. Unser Gedächtnis speichert das Prinzip "Tisch" ab und findet sich dann, wenn wir das nächste Mal mit einem Tisch konfrontiert sind, besser zurecht. Das gilt für einfache Prinzipien ebenso, wie für komplexe Abläufe. Eine einstudierte Standardsituation beim Fußball ist ein gutes Beispiel dafür. Auch dessen Regeln und Abläufe festigt und organisiert unser Gehirn im Schlaf. Gedächtnisforscher gehen davon aus, dass Kleinkinder auch deshalb so viel schlafen, weil sie die Regeln, nach denen ihre Welt funktioniert, Stück für Stück entdecken und dauerhaft abspeichern müssen. Auf diesen Gesetzmäßigkeiten baut unser ganzes Verständnis der Welt auf.

Bitte merken:

Das menschliche Gedächtnis ist ein faszinierender, sich selbst organisierender Speicher. Es ist nicht so exakt und zuverlässig wie ein Computer. Aber dafür lässt es in der gelegentlichen Unschärfe Raum für neue Erfahrungen und es passt sich flexibel und schnell an neue Herausforderungen an. Ein "Eiweiß-Computer", der den Forschern in seiner Effizienz und Komplexität immer noch Bewunderung abverlangt.

Autor: Björn Platz (NDR)

Stand: 07.12.2019 18:18 Uhr

Sendetermin

Sa., 07.12.19 | 16:00 Uhr
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Norddeutscher Rundfunk
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