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Kreidezähne – Was zerstört unseren Zahnschmelz?

Sieben Zähne auf einer Kreidetafel, davon einer ein Kreidezahn
Etwa jedes siebtes Kind leidet an Kreidezähnen. | Bild: WDR

Ein neues Zahnleiden bringt immer mehr junge Patienten in die Praxen von Kinderzahnärzten: die sogenannten "Kreidezähne". Man erkennt sie an kalkweißen und gelb-braunen Verfärbungen. Der Zahnschmelz ist zu weich, weist Risse auf und bröckelt in schweren Fällen beim Kauen sogar ab. Etwa jedes siebte Kind leidet Studien zufolge an Kreidezähnen – und das weltweit. Zahnärzte sprechen bereits von einer neuen Volkskrankheit, rätseln aber immer noch über ihre Ursachen. 

 Bislang keine Heilung möglich

Anders als Karies sind Kreidezähne nicht heilbar. Zahnschmelz bildet sich schon im Mutterleib, etwa ab dem achten Schwangerschaftsmonat, und ist fertig ausgeformt im vierten Lebensjahr. Er besteht aus einer ineinander verschränkten Schicht aus sogenannten Kristalliten, die den Schmelz zur härtesten Substanz im menschlichen Körper machen. Bei Kreidezähnen ist diese Kristallit-Struktur jedoch löchrig und instabil. Betroffen sind nicht nur Milchzähne, sondern auch bleibende Zähne. 

Zahnkronen für Kinder
In schweren Fällen bekommen bereits Kinder Kronen. | Bild: WDR

Oft bleibt es bei leichten Verfärbungen. In schweren Fällen aber hat der Schmelz Fissuren, bröckelt und ist zudem hoch schmerzempfindlich. Hier muss umgehend therapiert werden, um ein weiteres Abbauen zu verhindern. Dazu wird Fluoridlack aufgetragen, Fissuren werden gefüllt und versiegelt, notfalls mit Kronen. Wenn alles nichts hilft, muss der Zahn gezogen werden.

Antibiotika zu Unrecht unter Verdacht? 

Da es keine Heilung gibt, ist Prävention umso wichtiger. Dafür aber müsste man die Ursachen kennen. Doch dazu gibt es bislang nur Theorien. Die ersten Berichte über Kreidezähne – in Fachsprache "Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation" genannt, kurz: MIH – stammen aus den 1980er Jahren. Eine These: Der vermehrte Einsatz von Antibiotika bei Müttern und Kindern seit den 1960er und -70er Jahren könnte die Zahnbildung beeinflusst haben. Doch das allein kann als Erklärung nicht genügen, betont die Molekularbiologin Sylvie Babajko vom Forschungszentrum INSERM in Paris. Es gebe genauso viele Kinder mit Kreidezähnen, die keine Antibiotika erhalten hätten, wie solche, die sie eingenommen haben.

BPA im Futter: Ratten entwickeln Zahnprobleme

Sylvie Babajko erregte 2013 mit einer Studie Aufmerksamkeit, die auf eine andere mögliche Ursache hinweist: Bisphenol A, kurz BPA. Ein Grundbaustein zahlreicher Alltagsprodukte aus Kunststoff: Plastikverpackungen und -flaschen, Spielzeug und Schnuller. Auch in Innenbeschichtungen von Konservendosen wird es verwendet. Das Problem: BPA kann sich lösen und dann in unseren Blutkreislauf geraten. Bei 80 Prozent aller Europäer lässt es sich im Blut nachweisen.

Sylvie Babajko hat mit ihren Kollegen in Paris getestet, was mit männlichen Ratten geschieht, wenn sie täglich mit BPA gefüttert werden – und das bereits vor ihrer Geburt, über die Nahrung ihrer Mutter. Das Ergebnis: Drei von vier Ratten entwickelten Zahnprobleme, die menschlichen Kreidezähnen sehr ähneln: Ihr Schmelz war verfärbt und stellenweise abgebröckelt. Unter dem Elektronenmikroskop zeigte sich zudem, dass die Struktur der Zahnschmelz-Kristallite durcheinander geraten und löchrig war. Ein besorgniserregender Befund.

Rätselhafter Geschlechterunterschied

Schnuller liegen auf einem Tuch
Schnuller sind oft BPA-belastet. | Bild: WDR

Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat die Aufgabe, die Gesundheitsgefährdung durch Stoffe wie BPA einzuschätzen. 2018 nahm es Stellung zur Pariser Studie – und äußerte Zweifel. Ein Zusammenhang zwischen Kreidezähnen und dem Plastikbaustein BPA sei unwahrscheinlich. Ein Kritikpunkt: Die Zahnschäden unter BPA träten bei weiblichen Ratten deutlich seltener auf als bei männlichen – nämlich nur bei 30 Prozent der Tiere. Das hatte Babajko in einer Folgestudie selbst herausgefunden. 

Beim Menschen findet sich diese unterschiedliche Sensibilität nicht wieder: Mädchen und Jungen sind gleichermaßen von Kreidezähnen betroffen. Solange für diesen Geschlechterunterschied keine Erklärung vorliege, müsse man die Übertragbarkeit von Ratte auf Mensch bezweifeln, so das Bundesinstitut.

Testosteron reguliert die Zahnbildung

Zeichnung von Testosteron auf Kreidetafel
Wichtig für die Schmelzbildung: Testosteron. | Bild: WDR

Um dem Geschlechterunterschied nachzugehen, untersuchte Molekularbiologin Babajko genauer, wie Zähne überhaupt gebildet werden. Dafür sind – beim Menschen wie bei der Ratte – die sogenannten Adamantoblasten zuständig: eine dünne Zellschicht, die aus Mineralien die Kristallite produziert, aus denen sich der Zahnschmelz aufbaut. Wie diese Mineralisation genau reguliert wird, ist bis heute nicht völlig klar. 2016 gelang Babajko jedoch bei einem Experiment mit Rattenzähnen ein Durchbruch: Indem sie die zahnbildenden Zellen einfärbte, entdeckte sie in ihnen Rezeptoren für das Sexualhormon Testosteron. Testosteron scheint die Bildung der Kristallite aktivieren und regulieren zu können – insbesondere in der Endphase der Schmelzbildung, wenn dieser verdichtet und verhärtet wird. Hormonell wirksame Substanzen wie BPA können diese Funktion des Testosterons behindern. Statt des Testosterons dockt BPA an die Zellen an, die den Zahnschmelz bilden – und stört so die Mineralisation.  Und da Testosteron beim männlichen Geschlecht in höherer Konzentrationen vorliegt, ist es für Babajko nur logisch, dass ihre männlichen Ratten stärker als die weiblichen Ratten von MIH betroffen sind.

Hormonaktive Substanzen: Die Mischung macht's!

Bild von Sylvie Babajko, Forscherin bei INSERM Paris
Sylvie Babajko erforscht hormonelle Wechselwirkungen. | Bild: WDR

Warum aber findet sich diese unterschiedliche Betroffenheit der Geschlechter nicht beim Menschen wieder? Ist Sylvie Babajkos Testosteron-Befund an Ratten auf uns nicht übertragbar? Das sieht die Molekularbiologin anders. Sie habe mit BPA nur den Wirkmechanismus eines einzigen Schadstoffes untersucht. Anders als Laborratten nehmen Menschen jedoch jeden Tag verschiedenste hormonaktive Substanzen auf. In welchem Zusammenspiel diese Substanzen und weitere Faktoren wie z.B. Antibiotika letztlich zum Symptom Kreidezähne führen könnten, muss noch erforscht werden. Babajko will ihren Teil zu dieser Sisyphos-Arbeit beitragen. Bis mehr Klarheit herrscht, kann mit Blick auf BPA vorsorglich nur eines getan werden: Unnötigen Kunststoff im Alltag vermeiden.

Autor: Patrick Jütte (WDR)

Stand: 17.10.2019 12:07 Uhr

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