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Schnelle Pflanzen

Kletterpflanze
Kletterpflanzen schwingen so lange mit ihren Trieben hin und her, bis sie eine Stelle zum Andocken gefunden haben. | Bild: BR

Pflanzen wachsen. Und Kletterpflanzen suchen dabei regelrecht mit ihren Trieben nach Halt. Sie wedeln so lange hin und her, bis sie eine Stelle zum Andocken gefunden haben. Tatsächlich sind diese "Bewegungen" nur zu sehen, wenn man sie im Zeitraffer betrachtet. Da ist es durchaus faszinierend zu beobachten, wie die Pflanzen nach Möglichkeiten suchen, sich festzuhalten und mit ihren Ranken festzukrallen. Als Bewegungskünstler sind Pflanzen aber dennoch nicht bekannt. Schließlich sind sie doch meist "unbeweglich" verwurzelt. Doch es gibt Ausnahmen – und die sind noch dazu erstaunlich schnell. An der Universität Freiburg befassen sich Simon Poppinga und Thomas Speck mit ungewöhnlichen Pflanzenbewegungen. Sie sind fasziniert davon und wollen hinter ihr Geheimnis kommen. Das Ziel ist dabei, von der Natur zu lernen!

Die Venusfliegenfalle schnappt innerhalb von ein bis zwei Zehntelsekunden zu. Und das obwohl sie weder Nerven noch Muskeln hat. Ein Insekt, das die Sinneshaare auf den Blattinnenseiten der Falle berührt (und zwar zweimal innerhalb von etwa 20 Sekunden), löst in der Pflanze einen elekrophysiologischen Reiz aus. Der führt dazu, dass der Wasserdruck in bestimmten Zellen der Fangblätter sinkt. Die Fangblätter, die vorher nach außen gewölbt und vorgespannt sind, nähern sich dabei an und ändern dadurch plötzlich ihre Krümmung. Die Falle schnappt zu, das Insekt bleibt gefangen und wird langsam verdaut. Diese Bewegung ist für unser Auge noch gut wahrnehmbar.

Schnappbewegung komplex

Venusfliegenfalle mit Arthropod
Die Fangblätter der Venusfliegenfalle schnappen innerhalb einer Zehntelsekunde zu. | Bild: BR

Zehnmal schneller als die Venusfliegenfalle ist eine Verwandte von ihr, die Wasserfalle. Erstaunlich, denn sie muss beim Beutefang gegen den Widerstand des Wassers ankämpfen. An ihrem Spross hat sie kleine Schnappfallen, die denen der Venusfliegenfalle ähneln. Die fleischfressende Pflanze ist auch bei uns heimisch. In den letzten Jahren ist sie aber leider sehr selten geworden. Mit bloßem Auge kann man den Beutefang schwer verfolgen. Dazu braucht man ein Mikroskop und vor allem eine Hochgeschwindigkeits-Kamera.

Herauszufinden, welche mechanischen und physiologischen Prinzipien hinter den schnellen Pflanzenbewegungen stecken, ist alles andere als einfach. Auch bei der Wasserfalle ist die Schnappbewegung ziemlich komplex. In den beteiligten Zellen und Geweben laufen unterschiedliche Reaktionen ab. Sie alle müssen zusammenspielen. Nur dann klappt es mit dem Beutefang. Nur zwei Hundertstel Sekunden dauert die Schnappbewegung und die Beute, wie zum Beispiel Wasserflöhe, ist gefangen.

Viel Geduld für Beobachtung gefragt

Der erste Schritt, den Bewegungsablauf zu ergründen, ist aber immer die Bewegung selbst zu analysieren. Am besten mit Hochgeschwindigkeitskameras und Mikroskop. Dann kann die Bewegung verlangsamt und genauer studiert werden. Manchmal müssen die Wissenschaftler*innen Stunden oder sogar Tage warten, bis sie einen Beutefang wirklich aufnehmen können. Denn unter dem Mikroskop können sie nur auf eine bestimmte Klappfalle an der Pflanze scharf stellen. Und dann müssen sie warten, bis ein Beutetier auch genau diese Falle ansteuert. Wuseln zu viele Beutetiere im Wasser, ist der entscheidende Moment vielleicht verdeckt von einem vorbeischwimmendem Wasserfloh. Aber die Wissenschaftler haben Erfolg und können dann bei 50-facher Verlangsamung die Bewegung studieren.

Die scheinbar einfache Bewegung ist in Wahrheit hoch komplex. Nur mit vielen zusätzlichen Messungen und Gewebeuntersuchungen konnten die Wissenschaftler schließlich den Mechanismus der Wasserfalle analysieren. Zusammen mit einem interdisziplinärem Team haben es Thomas Speck und Simon Poppinga dann auch geschafft, die wirkenden Kräfte und Mechanismen in ein Computermodell zu übertragen. Mit Simulationen konnten schließlich noch offene Fragen geklärt werden.

Mechanismen für Soft-Robotik oder Architektur interessant

Forscher vor Monitor mit Grafik
So könnte es aussehen, wenn die Mechanik der Wasserfalle an geschwungenen Glasfassaden für Verschattung sorgt. | Bild: BR

Weil sie den Klappmechanismus dadurch genau verstanden haben, konnten die Wissenschaftler*innen das Prinzip schließlich in ein mechanisches Modell übertragen und erste Prototypen bauen. Die ahmen die Bewegung der Wasserfalle nach und könnten nun in unterschiedlichsten Technologiebereichen eingesetzt werden. In der Soft-Robotik zum Beispiel oder auch in der Architektur.

Zusammen mit Stuttgarter Kollegen entwickeln Thomas Speck und Simon Poppinga gerade eine Fassaden-Verschattung. Gerade an geschwungenen Glasfassaden sind herkömmlich Systeme nur schwer einsetzbar. Ideal für die mechanische Wasserfalle.

Samen werden in die Luft katapultiert

Drei fliegende Samen der Zaubernuss
Der Samen der Zaubernuss rotiert während seines Fluges 430 Mal in der Sekunde um sich selbst.  | Bild: Plant Biomechanics Group Freiburg

Die beiden Biologen sind aber noch weiteren schnellen Pflanzenbewegungen auf der Spur. Der Wasserschlauch zum Beispiel – auch bei uns heimisch – saugt seine Beutetiere innerhalb einer tausendstel Sekunde ein. Eine der schnellsten Bewegungen im Pflanzenreich. Knabbert ein Beutetier am Verschluss der Fangblase, öffnet sie sich blitzartig – und ein tödlicher Strudel entsteht.

Aber nicht nur bei der Jagd, auch bei der Verbreitung zählt Hochgeschwindigkeit. Der Frauenhaarfarn katapultiert seine Sporen innerhalb von 25 Millionstel Sekunden in die Luft. Und der Samen der Zaubernuss fliegt mit 12 Metern pro Sekunde aus seiner Kapsel. Der holzige Bestandteil der Kapsel zieht sich zusammen, wenn er austrocknet und erzeugt so einen immer stärker werdenden Druck auf die Basis des Samens. Wird er zu stark bricht der Samen von seiner Verankerung los. Kleine Strukturen in der Samenkapsel sorgen zudem dafür, dass der Samen bei seinem Flug rotiert. Und zwar unglaubliche 430 mal in der Sekunde. Wie eine Gewehrkugel. Das stabilisiert die Flugbahn des Samens. Die Pflanze kann sich so besser verbreiten.

Es gibt also tatsächlich ganz erstaunlich schnelle Pflanzenbewegungen. Man muss nur genau hinschauen, um sie zu entdecken und zu analysieren. Das gängige Bild von den "lahmen" Pflanzen sollte – zumindest in Teilen – revidiert werden.

Autor: Herbert Hackl (BR)

Stand: 11.06.2021 09:15 Uhr

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