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Latrinenforschung

Mitten auf dem Rathausplatz in Köln befindet eine archäologische Grabung. Das ist in der rund 2000 Jahre alten Stadt nichts besonderes mehr.

Der Gegenstand der Grabung aber schon: Dort hat einmal die erste Synagoge nördlich der Alpen gestanden.

Von vielleicht 800 nach Christus hat sie sich dort bis ins Spätmittelalter gehalten – allen Verfolgungen und Pogromen zum Trotz. Dies ist der Arbeitsplatz von Dr. Sven Schütte, Archäologe und Chef der "Archäologischen Zone" in Köln.

Dr. Schütte interessiert sich weniger für die Mauerfragmente, die dort aus dem Boden ragen. Was sein Experten-Herz wirklich höher schlagen lässt, verbirgt sich in einem runden Schacht, der aussieht wie ein Brunnen: Es ist die ehemalige Latrine der Synagoge, die Grube, in die das hinein fiel, was die Besucher und das Personal der Synagoge von ihren Toilettensitzen herabfallen ließen.

Spurenlesen

Latrinen werden erst seit den 1970er Jahren ernsthaft erforscht. Damals wurde einigen Wissenschaftlern bewusst, dass Latrinen eine konservierende Wirkung haben. Latrinen sind nämlich weitgehend von der Luftzufuhr abgeschlossen. Deshalb erhalten sich dort Dinge, die an anderen Orten längst verrottet wären, nicht nur Nahrungsrest und Kot sondern z.B. Dinge aus Holz oder Leder. Auch zerbrechliche Gegenstände, wie Trinkgefäße oder Kochgeschirr überdauern dort die Zeit unbeschadet.

Archäologisch gesehen ist die Latrine für Dr. Schütte der wertvollste Fund. Denn dort findet er Dinge, die den Alltag der Menschen widerspiegeln. Aus einer Latrine kann er etwas über alle Bereiche des damaligen Lebens erfahren: über Ernährung und Hygiene genauso wie über Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Aus den Latrineninhalten lässt sich nicht nur herauslesen wie die Menschen gegessen haben, welche Krankheiten sie hatten sondern auch wie sie Handel trieben, welche Gegenstände sie für ihren Alltag bevorzugten: Denn Gläser, Kochgeschirr, Schuhe, Schreibtafeln, Kinderspielzeug – eigentlich alles, was zum Hausrat gehörte findet sich heute in den Latrinen wieder.

Brüchiges Gemäuer

Ein einfaches Unterfangen ist die Grabung in Köln allerdings nicht. Zunächst muss die Fundstelle genügend abgesichert werden. Das Mauerwerk reicht bis tief in den Erdboden hinein – vielleicht bis zu sechzehn Meter tief, schätzen die Forscher. Das 600 Jahre alte Gemäuer ist brüchig und baufällig geworden, deshalb soll es zunächst stabilisiert werden, bevor man weiter gräbt.

Ende der jüdischen Gemeinde dokumentiert

Ein jüdisches Gefäß haben die Archäologen bereits gefunden. Als sich die Obrigkeit der Stadt damals entschlossen hatte, die ansässigen Juden zu vertreiben, wurde die Synagoge zerstört und später auch zu einer christlichen Kapelle umgebaut. Damals hat man den Hausrat und den Schutt in die Latrinengrube geschüttet. Also kann sich dort auch heute noch alles mögliche Inventar aus der alten Synagoge finden. So wird sich Dr. Schütte langsam rückwärts durch die Geschichte der jüdischen Gemeinde graben, indem er die Latrine Schicht für Schicht freilegt.

Autor: Salim Butt

Stand: 10.12.2012 16:20 Uhr

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