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Vertikaler Ackerbau

Bis 2050 werden ein Drittel mehr Menschen auf der Erde leben: 9,2 Milliarden. Die meisten davon in Großstädten. Sie alle wollen satt werden – und die UNO geht davon aus, dass wir allein bis 2030 sechzig Prozent mehr Lebensmittel brauchen .

Deshalb arbeitet der Landschaftsökologe Peter Smeets an einer Revolution. Geht es nach dem Niederländer, dann müssen wir schnellstens neue Wege in Sachen Landwirtschaft beschreiten: "Es kann nicht so weitergehen wie bisher", sagt Smeets, "es werden mehr Menschen, die Menschen verdienen mehr, und sie essen anders. Sie brauchen eine andere Ernährung, mehr Qualität. Wir brauchen einfach eine höhere Produktivität der Landwirtschaft."

Mehr Menschen ernähren – ohne weitere Anbauflächen

Wenn künftig die wachsende Weltbevölkerung mit Gemüse, Obst, Fleisch und Käse versorgt werden will, dann wäre im Prinzip eine zusätzliche Anbaufläche von der Größe Brasiliens nötig.

Unsinn, meint man in der holländischen Provinz – es geht auch anders. An der Universität Wageningen feilen Peter Smeets und seine Mitarbeiter an einer – wie sie sagen – klügeren Zukunftsvision: "Metropolitane Landwirtschaft" heißt ihre Zauberformel, die sie schleunigst umsetzen wollen: räumlich konzentrierte, sehr intensive Landwirtschaft, Tiere und Pflanzen kombiniert.

Bauernhöfe in der Stadt verstecken

Computeranimation: Hochhaus mit großen Gewächshausfenstern
Gewächshäuser werden in Hochhäuser integriert. | Bild: HR

Hinter gläsernen Fassaden will der frühere Umweltschützer Hightech-Bauernhöfe verstecken, die sich in jede moderne Großstadt integrieren lassen. In den Uni-Gewächshäusern erledigen eigens ausgesetzte Hummeln die Bestäubung, eine Nährstofflösung gibt den Pflanzen, was sie sich sonst aus dem Ackerboden gezogen hätten. Das Ziel: viele Pflanzen auf kleinstem Raum. Peter Semmets nennt ein Beispiel: "Im offenen Feld würde man zwei bis drei drei Kilo Tomaten pro Quadratmeter ernten. In unserem Gewächshaus sind es 60 bis 100 Kilogramm pro Quadratmeter."

Wie gemacht also für Städte mit chronischem Platzmangel. Alles Notwendige käme aus direkter Nachbarschaft. In sogenannten Agroparks sollen Tomaten genauso wachsen wie Kühe und Fisch.

Großprojekt in Shanghai

Jetzt haben die holländischen Wissenschaftler erstmals die Chance, ihre Vision in die Realität umzusetzen. Ein Megaprojekt: Der Greenport Shanghai. Ein Grüner Hafen, mitten im Yangtse-Delta auf einer Insel vor den Toren der Megacity. Ein gigantischer Lebensmittelpark, fast 70 Fußballfelder groß. Im Juli ist Baubeginn, zur Weltausstellung 2010 soll dort bereits geerntet werden. Shanghai will unabhängig werden von Lebensmittelimporten. Millionen Kühe, Hühner und Schweine sollen im Greenport gedeihen. Und das unter guten Bedingungen, versprechen die Wissenschaftler.

Gemütliches Landleben in der EU

Doch dieser durch und durch industrialisierten Agrarwirtschaft können die Europäer bislang nur wenig abgewinnen. Die EU subventioniert lieber die traditionelle Landwirtschaft. Und damit auch ein bisschen das Klischee vom gemütlichen Landleben, meint Peter Smeets: "Mit dieser Romantik können wir die Leute nicht ernähren, obwohl sie von der Großindustrie immer betont wird in der Reklame. Das ist aber eben alles nur Reklame."

Umweltfreundlicher Ackerbau

Denn längst wird industriell produziert. Und neuerdings geht das auch umweltfreundlich. Nördlich von Wageningen entsteht gerade ein hochmoderner Agropark, 40 Hektar groß, ein vollständig geschlossenes System. Dort kommt man ohne Pestizide aus, wie es Smeets und seine Kollegen fordern: Wespen erledigen die Schädlingsbekämpfung. Im Grundwasser wird die Sommerwärme gespeichert für kalte Tage. Acht Monate pro Jahr ernten die Hightech-Bauern täglich bis zu zwanzig Tonnen Paprika. Das ist dreißig mal mehr, als draußen möglich wäre, erläutert Peter Smeets: "Die Produktivität in diesem Gewächs ist sehr hoch, der Umweltschaden pro Kilogramm Paprika ist relativ niedrig, die Arbeitsbedingungen für die Leute sind relativ gut, verglichen mit denen im freien Feld. Das heißt, im Bereich nachhaltiger Entwicklung, die Vorteile für die Menschen und unsere Erde hat, sind wir wirklich auf einem sehr guten Weg."

Renaturierung von Ackerflächen

Allein in Europa könnten so 80 Prozent aller Anbauflächen eingespart und wieder in Naturlandschaften zurückverwandelt werden. Zudem wären lange Nahrungsmittel-Transporte verzichtbar, wenn der Agropark in jeder großen Stadt gleich um die Ecke liegt.

Milchkühe in Manhatten

In den USA gibt es noch viel kühnere Visionen. Dort soll die Intensivlandwirtschaft mitten ins Zentrum von Manhattan: Forscher der Columbia University träumen von Schweinezucht und Gemüseanbau in dreißig geschossigen Wolkenkratzern, die findige Architekten schon mal im Modell umgesetzt haben. Nur fehlt es noch an mutigen Investoren. Kein Wunder, meint Peter Smeets: "Ich denke, das ist nicht realisierbar. Wenn man sich ansieht, was man in Manhattan pro Quadratmeter an Grundstückspreisen bezahlt, dann ist es nicht gerade ökonomisch, dort Tomaten zu züchten - auch nicht bei einem solch intensiven Anbau wie hier im Gewächshaus."

Zumal sich manche Pflanzen gar nicht intensivieren lassen. Obstbäume beispielsweise wachsen auch im Gewächshaus nicht schneller als in freier Natur.

Doch auf den Wolkenkratzern gedeiht heute schon einiges. Kühnsten Prognosen zufolge würde die Hälfte der Dächer Manhattans ausreichen, um die gesamte Stadt mit frischem Gemüse zu versorgen.

An der Uni Wageningen hält man sich lieber an nüchterne Fakten. Und die sagen: Es muss sich dringend etwas ändern in der Landwirtschaft.

Autorin: Susann Reichenbach

Stand: 11.05.2012 13:05 Uhr

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