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Was geschah in Tunguska?

Tagtäglich werden wir aus dem All regelrecht "beschossen". Von dem "Bombardement" merken wir hier unten auf der Erde nichts. Was ist aber, wenn die Brocken aus dem All größer ausfallen? Entweder verglühen diese Himmelkörper in der Atmosphäre oder sie schlagen tatsächlich auf der Erdoberfläche ein.

Vor fast auf den Tag genau einhundert Jahren gab es in Sibirien am Fluss Tunguska eine riesige Explosion. Dieses Ereignis gibt den Experten bis heute Rätsel auf.

Die Explosion von Tunguska

Computersimulation
Explosion in der Taiga von Tunguska

Die Taiga von Tunguska ist eine Landschaft in Mittelsibirien, die ausschließlich aus Wäldern, Flüssen und Sümpfen besteht. Hier kam es am 30. Juni 1908 zu einer der größten Explosionen in der Geschichte der Menschheit. Nach allem, was man weiß, muss diese Explosion eine Stärke von über tausend Hiroshima- Atombomben gehabt haben. Dabei wurde ein Gebiet von der Größe des Saarlandes völlig verwüstet. Die Schockwellen der Explosion wurden rund um die Erde registriert. Bald sprach vieles für den Einschlag eines riesigen Meteoriten. Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass die Explosion in ganz Mitteleuropa die Nacht erhellte.

Erste Expedition in die Taiga

Zwei Jahrzehnte später fand eine sowjetische Expedition unter Führung des Mineralogen Leonid Kulik ein gespenstisches Szenario vor: Zerstörte Bäume, wohin das Auge reicht. Kulik unternahm mehrere Expeditionen in das unzugängliche Gebiet. Er kartierte akribisch die Taiga, nahm Bodenproben und ließ Teiche entwässern. Doch er fand keine Hinweise auf einen Meteoriten, noch einen Krater - nicht einmal auf Luftaufnahmen.

Vergebliche Suche nach einem Meteoriten

Noch heute ist eine Expedition in die Tunguska- Region ein kleines Abenteuer. Der deutsche Geologe und Geograph Christoph Brenneisen, unternimmt seine zweite Reise in das vermeintliche Einschlagsgebiet. Wie bereits bei einer deutsch-russischen Expedition im Jahr 2000 sucht er in Bodenproben nach Hinweisen auf die Explosionsursache.

Beweise für den Einschlag eines Himmelskörpers hat auch er nicht gefunden. Doch er weiß, dass das Rätsel gelöst werden muss. Denn ein zweites Tunguska könnte viel fatalere Folgen haben. Wenn es tatsächlich ein Meteorit war und die Erde sich ein bisschen weitergedreht hätte, dann hätte der Meteorit auch Petersburg, eine Stunde später Helsinki, eine Stunde später Stockholm und danach Oslo vernichten können. Alle diese großen Städte liegen auf einem Breitengrad.

Explosion über der Erdoberfläche?

Auch der Physiker Mark Boslough in Albuquerque, New Mexico, untersuchte die Ursache der Explosion in der Taiga: Das Tunguska-Gebiet hat der Kernwaffen-Experte bisher zwar nicht besucht. Aber mit den Superrechnern des militärischen Forschungszentrums Sandia Labs hat er aufwändige Computersimulationen eines möglichen Einschlags erstellt.Mark Boslough kam zu dem Schluss: Die Tunguska- Explosion wurde durch den Zusammenprall eines großen Kometen oder Asteroiden mit der Atmosphäre ausgelöst. Als der Himmelskörper in die Atmosphäre eintrat, brach er auseinander und explodierte bevor er auf den Erdboden aufschlug. Diese Explosion erzeugte viel Licht, Hitze und eine starke Druckwelle. Die Bäume wurden regelrecht niedergemäht, und einige fingen durch die Hitze Feuer, so seine Theorie.

Bosloughs Modell von einer Explosion über der Erde erklärt das Fehlen eines Kraters in der Tunguska Region. Aber müssten sich nicht trotzdem Spuren von Meteoriten-Material nachweisen lassen?

Geheimnisvoller Felsbrocken

Der Geologe Christoph Brenneisen entgegnet auf die Theorie von Boslough: "Wenn eine Druckwelle ankommt, dann muss auch Materie ankommen. Und diese Materie ist nicht gefunden worden."

Christoph Brenneisen kann auch bei seiner zweiten Tunguska Expedition keinen Sternenstaub nachweisen. Stattdessen führt ihn ein einheimischer Jäger zu dem 1972 entdeckten so genannten "John-Stein". Der Felsbrocken gehört definitiv nicht in diese Landschaft, aber er stammt auch nicht aus dem All. Der Geologe ist sich sicher, dass der Felsen aus den Tiefen der Erde kommt. Gibt es vielleicht einen Zusammenhang mit der Explosion von 1908?

Vulkanische Gase als mögliche Ursache?

In der deutschen Vulkaneifel arbeitet Wolfgang Kundt. Der Bonner Professor für Astrophysik ist der festen Überzeugung, dass der "John-Stein" vor genau hundert Jahren durch vulkanische Gase an die Erdoberfläche von Tunguska geschleudert wurde. Nach einer Exkursion in die Taiga präsentierte er 2001 seine These, die seitherals einzig seriöse Gegenmeinung zu einem Asteroideneinschlag gilt. Für Wolfgang Kundt ist ein Ausbruch aus dem Erdinnern, ein vulkanischer Ausbruch "die einzige Lösung, die mit den vielen Fakten verträglich ist, die wir sehen."Nach Kundts Gastheorie könnten mehrere Millionen Tonnen Erdgas aus einem unterirdischen natürlichen Lager entwichen und wie in einem Vulkanausbruch explodiert sein. Das würde auch erklären, dass viele Zeugen mehrere Explosionen gehört haben wollen. Möglich wäre ebenfalls eine Art Kettenreaktion: Der Einschlag eines kleineren Meteoriten könnte große Mengen Erdgas freigesetzt haben, die daraufhin explodierten.

Suche nach einem Krater

Beweise für Wolfgang Kundts Hypothesen gibt es bislang nicht. Geologen der Universität Bologna wollen endlich alle Zweifel an einem Meteoriteneinschlag ausräumen. Sie sind überzeugt, in Tunguska auf der heißen Spur eines Kraters zu sein. Die Italiener waren die ersten Forscher aus dem Westen, die das Epizentrum untersuchen durften. Anfangs versuchten sie, kosmische Materie in assersedimenten nachzuweisen. Aber überzeugend waren ihre Funde nicht. Die Forscher nehmen jetzt an, dass ein See im Einschlagsgebiet des Rätsels Lösung birgt.

Bohrungen unter dem Tschecko See

Luca Gasperini, Meeresgeologe an der Universität Bologna: "Auf dem Grund des Sees, nahe der Mitte und ungefähr zehn Meter im Boden, fanden wir in unseren seismischen Daten eine Verdichtung. Diese Verdichtung könnte Folge eines Einschlags sein – vielleicht ist es sogar der Meteorit selbst, der nun unter den Sedimenten verschüttet liegt."Für Gasperini und seine Kollegen ist die Form und die Tiefe des Tschecko Sees in dieser Gegend sehr ungewöhnlich. Wenn sie ihre aufwändigen Pläne in die Tat umsetzen dürfen, könnten sechzig Meter tiefe Bohrungen unter dem See Gewissheit schaffen. Derzeit ist der Tschecko See die einzige Hoffnung, in Tunguska einen Krater und Reste des Meteoriten zu finden.

Autor: Christoph Schuch

Literatur

30. Juni 1908: Tunguska in Flammen

GEO Magazin Nr. 07/08
"Wer sind die Amerikaner?"
Online-Version des Artikels bei
http://www.geo.de

Stand: 30.09.2014 14:26 Uhr

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