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Prothesen mit Gefühl

Christian K. in einer Prothesenwerkstatt
Er hatte eine der modernsten Armprothesen der Welt | Bild: HR

Essen, trinken, duschen, Zähne putzen, Zeitung lesen – für einen gesunden Menschen gehört das zum Alltag. Menschen dagegen, die Gliedmaßen verloren haben, sind dadurch permanent mit ihrer Hilflosigkeit und Abhängigkeit konfrontiert. So auch der Österreicher Christian Kandlbauer. Nach einem Starkstromunfall mussten ihm beide Arme amputiert werden. Seine linke Seite war bis zum Schultergelenk so stark geschädigt, dass Prothesenhersteller ganz neue Wege gehen mussten, um dem jungen Mann zu helfen. Christian Kandlbauer bekam eine der modernsten Armprothesen der Welt: Eine mit den Gedanken gesteuerte Prothese, die Kandlbauer zudem die Fähigkeit zurückgeben sollte, Oberflächen- oder Temperaturunterschiede zu erfühlen. Erste Tests verliefen vielversprechend. Doch dann verstarb Christian Kandlbauer im Oktober an den Folgen eines tragischen Verkehrsunfalls, dessen Ursachen noch nicht geklärt sind.

Ein Unfall kostet beide Arme

Christian Kandlbauers Leidensgeschichte begann mit jugendlichem Leichtsinn: 2005, als Siebzehnjähriger, kletterte er auf einen Starkstrommast und bekam einen heftigen Stromschlag. Eine Woche lag der Jugendliche im Koma, danach das furchtbare Erwachen: Der Unfall hatte den Österreicher beide Arme gekostet. Zudem war auch sein linkes Schultergelenk so geschädigt, dass eines klar war: Selbst die damals modernsten Armprothesen würden nicht helfen, Kandlbauers linken Arm zu ersetzen. Vielen Patienten nutzen sogenannte myoelektrische Prothesen. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Prothese an einen funktionstüchtigen Muskel ansetzen kann. Der Patient steuert durch Muskelzucken diese Prothese: Sie misst die auftretenden Muskelimpulse und übersetzt sie in von kleinen Elektromotoren erzeugte Bewegungen des Kunstarms. Doch bei Kandlbauer war kein Muskel übrig, mit dem eine myoelektrische Prothese hätte gesteuert werden können. Einzig eine kosmetische Armprothese konnten die Ärzte dem jungen Mann versprechen. Zu wenig für ein selbstbestimmtes Leben.

Eine Prothese mit Gedankensteuerung

Doch Christian Kandlbauer hatte Glück im Unglück. Prothesenforscher der Firma Otto Bock wurden auf ihn aufmerksam. Die Prothesenbauer konnten ihre neuesten Prototypen weiterentwickeln, und für Christian war schon die kleinste Verbesserung seiner Situation ein Gewinn an Lebensqualität. Zusammen mit ihrem Patienten entwickelten die Experten eine Strategie: Christian sollte den Kunstarm mittels seiner Gedanken steuern können. Nerven, die früher in seinen Arm mündeten, waren bis zum Schultergelenk noch funktionstüchtig. Diese Nerven wollten die Ärzte mit seinem Brustmuskel verbinden. Die neue Prothese würde dann die Steuerbefehle an Hand und Arm am Brustmuskel abgreifen und in die gewünschten Arm- und Handbewegungen umsetzen. Obwohl so an der Steuerung der Brustmuskel beteiligt ist, wäre es für Kandlbauer so, als kommunizierte sein Gehirn weiterhin mit Arm und Hand, einem "Phantomarm". Der junge Mann sollte die erste Prothese dieser Art in Europa bekommen, für die Prothesenbauer absolutes Neuland.

Erfolgreiche Operation

2006 dann die Operation. Wie geplant leiteten die Ärzte die Nervenbahnen um. Doch bis die Nerven mit der Brustmuskulatur Kontakt aufnahmen, dauert es mehrere Monate, denn die Nervenstränge mussten erst etwa 20 Zentimeter in die Länge wachsen. Nach unzähligen Tests und mit viel Übung gelang es dem Österreicher nach einiger Zeit wirklich, unterschiedliche Bereiche der Brustmuskulatur zum Zucken zu bringen, je nachdem welche Arm- oder Handbewegung er gerade ausführen wollte. Ein voller Erfolg. Elektroden seiner neuen Armprothese griffen diese Muskelimpulse von der Haut ab. Ein Minicomputer in der Prothese übersetzte diese Impulse in Bewegungen der Elektromotoren der Prothese. Kandlbauer konnte nach einer harten Zeit des Trainings wieder Zugreifen, den künstlichen Arm beugen und strecken und die Hand rotieren lassen. Sieben unterschiedliche Bewegungen konnte er am Ende gleichzeitig ausführen. Fast als hätte er eine gesunde Gliedmaße. Das gelang, weil Kandlbauer Gehirn dabei so arbeitete, als bewegte er einen Arm aus Fleisch und Blut.

Doch die Prothesenentwickler wollten noch mehr. Sie wollten Christian Kandlbauer auch den Tastsinn zurückgeben. Dafür montierten sie in die Kunstfinger Sensoren, die die Beschaffenheit einer Oberflächen oder die Temperatur eines Objekts messen. Die gemessenen Informationen wurden über Elektroden an den umgeleiteten Nerv und somit ans Gehirn übertragen. Erste Tests im Labor von Otto Bock verliefen vielversprechend: Christian Kandlbauer schaffte es, raue von glatten Oberflächen zu unterscheiden. Auch ob ein Glas heißes, oder kaltes Wasser enthält, erspürte Kandlbauer mit seiner Kunsthand. Für den Prothesenhersteller Otto Bock schien mit seinem "Vorzeigepatienten" der große Durchbruch gelungen. Noch feinere Prothesen, mit denen Patienten beispielsweise einen Stift fassen und schreiben könnten, schienen nun möglich.

Ein Vorreiter

Christian Kandlbauer stand wieder vor einem erfüllten und selbstbestimmten Leben. Er freute sich darauf, die fühlende Prothese auch in seinem Alltagsleben zu tragen. Der Österreicher hat dieses große Ereignis nicht mehr erleben dürfen. Am 21. Oktober 2010 starb er mit nur 22 Jahren an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Auch für die Forscher bei Otto Bock ist sein Tod ein großer Verlust. Denn bei allen Möglichkeiten, die die Technik heute bietet: Ohne Menschen wie Christian Kandlbauer wäre jeder Fortschritt unmöglich. Menschen, die auch nach einem schweren Schicksalsschlag die Kraft aufbringen, etwas Neues zu wagen. Und die bereit sind Operationen, jahrelanges Training und viele Rückschläge auf sich zu nehmen. Kandlbauer hatte den Mut, Schritte nach vorne zu wagen, die vor ihm noch niemand gegangen ist.

Autoren: Iris Rietdorf, Frank Nischk (WDR)

Stand: 11.05.2012 13:03 Uhr

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