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Warum der Reaktor explodierte

Chronologie einer Unglücksnacht

Drei Männer im Kontrollraum vom Kernkraftwerk Tschernobyl
Die Nachtschicht beginnt (nachgestellte Szene) | Bild: WDR

Es ist die Nacht vom 25. auf den 26. April, kurz vor Mitternacht. Bis auf ein paar Männer, die gleich ihre Nachtschicht beginnen, schläft die Stadt. Eigentlich rechnen die Ingenieure im Block vier vom Kraftwerk Tschernobyl mit einer völlig normalen Nachtschicht.

Doch dann sollen sie in dieser Nacht das Notkühlsystem des Reaktors überprüfen – für den Fall eines Stromausfalls. Im Normalbetrieb ackern sechs leistungsstarke Pumpen rund um die Uhr, um Wasser zur Kühlung in den Reaktorkern zu transportieren. Bei einem Stromausfall würde ein Notstromaggregat die Pumpen antreiben. Doch bis dieser genügend Strom erzeugt, vergehen 40 bis 50 Sekunden. Der Test soll nun zeigen, ob diese Zeit überbrückt werden kann.

Ein längst überfälliger Test

Ingenieur liest in einem Handbuch Anweisungen für den Test
Letzte Vorbereitungen vor einem Sicherheitstest (nachgestellte Szene) | Bild: WDR

Für die Sicherheit eines Kraftwerkes ist der Test absolut notwendig. So
notwendig, dass er eigentlich schon zwei Jahre vorher hätte durchgeführt
werden müssen - bevor der Reaktor in Betrieb ging! Doch damals nahmen sich
die Verantwortlichen nicht die Zeit. So muss der Test nun zwingend
nachgeholt werden. Dabei werden drei Männer eine besondere Rolle spielen:
Da ist zum einen Anatoli Djatlow, stellvertretender Chefingenieur des
Kraftwerks und ein erfahrener Kernphysiker. Ihm zur Seite stehen der
routinierte Schichtleiter Alexander Akimow und der noch ziemlich junge
Reaktoroperator Leonid Toptunow. Zu Beginn der Schicht wissen alle drei
allerdings noch nicht, was auf sie zukommt.

Die Männer sind nicht auf den Test vorbereitet

Absorberstäbe im Reaktorkern
Die Absorberstäbe sind Bremse und Gaspedal zugleich | Bild: WDR

Für den Versuch muss der Reaktor auf ungefähr 20 Prozent seiner Maximalleistung gedrosselt werden. Das dauert einige Stunden. Deshalb beginnen die Ingenieure in der Nacht vorher damit, die Leistung zunächst auf 50 Prozent zu reduzieren. Doch bevor sie gegen Mittag den Reaktor weiter runterfahren, kommt aus der Hauptstadt Kiew der Befehl, damit zu warten. Der Strom wird dringend benötigt. Als die Frühschicht nach Hause geht, köchelt der Reaktor immer noch mit halber Kraft. Erst nach 23 Uhr meldet sich Kiew wieder und gibt den Weg frei zur weiteren Leistungsabsenkung. Da ist allerdings auch die Spätschicht schon fast zu Ende. So kommen Djatlow, Akimow und Toptunow eher zufällig in die Verantwortung.

Um die Leistung des Reaktors weiter zu verringern, fährt Toptunow langsam die Absorberstäbe in den Reaktor. Mit diesen lässt sich die Leistung des Reaktors steuern. Sie sind so etwas wie Bremse und Gaspedal. Fährt Toptunow die Stäbe in den Reaktor, sinkt die Leistung. Zieht er sie heraus, steigt sie. Eigentlich ist das Einfahren der Absorberstäbe Routine. Doch etwas Unerwartetes passiert: Die Leistung des Reaktors sinkt viel zu stark. Er produziert nur noch ein Prozent seiner Maximalleistung. Es ist 28 Minuten nach Mitternacht. Noch 56 Minuten bis zum tragischen Unfall.

Der Risikofaktor Mensch

Chefingenieur Anatoli Djatlow blickt entschlossen
Chefingenieur Djatlow trifft die fatale Entscheidung (nachgestellte Szene) | Bild: WDR

Bis heute ist nicht abschließend geklärt, ob Toptunow einen Fehler macht oder ob ein technischer Defekt den Leistungsabsturz auslöst. Schichtleiter Akimow ist sofort klar: Bei dieser geringen Leistung kann der Test nicht funktionieren. Es gibt nun nur noch zwei Alternativen. Entweder muss der Reaktor für mindestens einen halben Tag ausgeschaltet werden. So steht es in den Vorschriften. Und so wäre es am sichersten. Doch es gibt noch eine riskante Variante, nämlich den Reaktor mit allen Mitteln wieder auf Leistung zu trimmen. Zu riskant, wie Akimow und Toptunow wissen. Aber Chefingenieur Djatlow ist fest entschlossen: Wir machen den Test! Heute Nacht! Er will seinen Vorgesetzten imponieren. Und so wischt er die Einwände seiner Kollegen vom Tisch und befiehlt: Vollgas! Toptunow muss bis auf eine kleine Reserve alle Absorberstäbe aus dem Reaktorkern entfernen. Nur so lässt sich die Leistung jetzt noch wirkungsvoll steigern.

Keine Kontrolle mehr über den Reaktor

Djatlows Hand am Notausschalter
Der erfahrene Chefingenieur ignoriert Sicherheitsvorschriften (nachgestellte Szene) | Bild: WDR

Um Punkt ein Uhr scheint es zu funktionieren. Die Leistung steigt. Langsam, aber sie steigt auf sieben Prozent. Immer noch deutlich weniger als gefordert. Um den Reaktor weiter anzutreiben, will Djatlow auch die restlichen Absorberstäbe entfernen. Normalerweise verhindert ein automatisches System, dass dies geschieht. Djatlow weiß das und schaltet das Notfallsystem einfach aus. Mit nur mäßigem Erfolg. Nur langsam produziert der Reaktor mehr Energie. Das Gefährliche an der Situation: Nur noch sechs der insgesamt 211 Absorberstäbe sind eingefahren. Damit haben die Ingenieure so gut wie keine Kontrolle mehr über den Reaktor. Wenn etwas passiert, können sie kaum noch reagieren.

Der Notausschalter kann nicht mehr helfen

"Glühende" Absorberstäbe beschleunigen die Kettenreaktion
Ein fataler Konstruktionsfehler – die Absorberstäbe beschleunigen die Reaktion | Bild: WDR

01:22 Uhr. Der Reaktor erreicht zwölf Prozent seiner Leistung. Eindeutig zu wenig für den Test. Doch Djatlow lässt sich nicht beirren. Er befiehlt Toptunow, den Test trotzdem zu starten. Der versucht ein letztes Mal, seinen Chef aufzuhalten. Doch es nützt nichts. Um 01:23 Uhr und vier Sekunden beginnt der Versuch. Noch 56 Sekunden bis zum Super-GAU.

Es geht alles ganz schnell: Die Leistung im Reaktorkern steigt auf einmal rasant an. Und die Absorberstäbe, die den Reaktor theoretisch bremsen könnten, sind alle herausgefahren – stehen also nach wie vor auf "Vollgas". Die Mannschaft begreift: Der Reaktor ist außer Kontrolle. Schichtleiter Akimow sieht nur noch eine Rettung. 36 Sekunden nach Beginn des Tests drückt er den Notausschalter. Dadurch fallen alle Absorberstäbe gleichzeitig in den Kern. Jetzt wird ein fataler Nachteil dieses Bautyps zum Verhängnis: Im Moment des Eintauchens beschleunigen die Absorberstäbe für einen kurzen Augenblick die Kettenreaktion, anstatt sie zu bremsen. In wenigen Sekunden steigt die Leistung auf das Hundertfache. Um 01:24 Uhr zerreißt eine gewaltige Explosion die nächtliche Stille.

Autor: Silvio Wenzel (WDR)

Stand: 24.09.2015 13:56 Uhr

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