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Wenn die Hilfe zu spät kommt

Wenn die Busse kommen - Evakuierung einer Stadt

Das Atomkraftwerk Tschernobyl mit einer Staubsäule, die bis zu den Wolken reicht
Hitze treibt radioaktiven Staub bis in die Wolken | Bild: SWR

25. April 1986, 15:00 Uhr
Ein schöner Frühlingsnachmittag für die rund 50.000 Einwohner von Prypjat, einer Stadt in der heutigen Ukraine. Drei Kilometer entfernt, das Kernkraftwerk Tschernobyl. Viele von ihnen arbeiten dort.

In dieser Nacht wird in Block vier ein Test durchgeführt, für den die Sicherheitssysteme absichtlich außer Kraft gesetzt werden. Das Experiment verläuft nicht nach Plan.

26. April 1986, 01:24 Uhr
Der Reaktor gerät außer Kontrolle: Während Prypjat schläft, kommt es zu einer gewaltigen Explosion. Die über 1.000 Tonnen schwere Abdeckplatte des Reaktors wird in die Luft gesprengt. Ein enormer Dampfstoß schleudert tonnenweise Uran und Graphit in die Umgebung. Aus dem klaffenden Loch schießt ein Feuerstrahl, die Hitze reißt hochradioaktive Spaltprodukte über tausend Meter hoch in die Luft. Der radioaktive Fallout wird 100 Mal so groß sein wie in Nagasaki und Hiroshima.

Prypjat und die Welt sind ahnungslos

Maskierte Soldaten sprechen mit einem Passanten
Maskierte Soldaten in Prypjat verunsischern die Bevölkerung | Bild: SWR

26. April 1986, 08:00 Uhr
Am Morgen hat der radioaktive Rauch die Wolken kontaminiert. Hubschrauberpiloten entdecken am nächsten Morgen als erste den zerstörten Reaktor. Ein Fotograf dokumentiert das Unglück und macht aus dem geöffneten Fenster des Hubschraubers heraus Bilder. Dennoch lautet bis zum Abend die offizielle Meldung aus dem Kraftwerk nach Moskau: Der Reaktor ist intakt. Dabei brennt unter den Trümmern der Graphit, der im Reaktor das Uran umgab – in der Hitze schmilzt der nukleare Brennstoff.

26. April 1986, 10:30 Uhr
Die Einwohner von Prypjat ahnen nichts von der Katastrophe. Am Nachmittag kursiert das Gerücht von einem Brand im Kraftwerk und Toten in der Nacht. Aber noch immer erfolgt keine offizielle Information.

26. April 1986, 14:00 Uhr
Maskierte Soldaten tauchen überall in der Stadt auf und sorgen für eine gewisse Verunsicherung. Sie messen die Strahlung. Am Abend hat sie das 600.000fache des normalen Werts erreicht – und steigt weiter an. Innerhalb von vier Tagen würden die Menschen so tödlich verstrahlt. Doch weder am Tag nach dem Unglück, noch in der folgenden Nacht werden sie informiert.

Die Evakuierung kommt zu spät

10 gelbe Busse verstopfen eine Kreuzung
2.700 Busse wurden für eine Evakuierung nach Prypjat geschickt | Bild: SWR

27. April 1986, 11:00 Uhr
Am zweiten Tag, 30 Stunden nach dem Unfall, treffen plötzlich 2700 Busse in der Stadt ein. Die gesamte Stadt soll evakuiert werden. Die Einwohner von Prypjat bekommen zwei Stunden Zeit, um ihre Sachen zu packen. Um Panik zu vermeiden, sagt ihnen keiner, wie schlimm die Lage wirklich ist.

27. April 1986, 14:30
Innerhalb von dreieinhalb Stunden werden die Einwohner von Prypjat aus dem verseuchten Gebiet gebracht. Sie werden nie wieder zurückkehren. Sie waren einer Strahlung ausgesetzt, die in den kommenden Jahren bei vielen von ihnen tödliche Krebsleiden hervorrufen wird.

Die Wolke – Radioaktivität kennt keine Grenzen

Karte von Europa mit einer Wolke, die die Verbreitung der radioaktiven Artikel darstellt
Die radioaktive Wolke breitet sich über ganz Europa aus | Bild: SWR

Auch nach der Evakuierung von Prypjat hat die Regierung in Moskau keinen Staat von dem Unglück informiert. Aber die Wolken mit den radioaktiven Partikeln werden vom Wind nach Norden getragen. Sie ziehen über Weißrussland, Russland und das Baltikum. Am 28. April erreichen sie Schweden. In der Nähe eines schwedischen Atomkraftwerks wird eine stark erhöhte Radioaktivität gemessen. Radioaktiver Staub aus Tschernobyl regnet auf Stockholm. Kampfflieger messen die Strahlung in der Atmosphäre. Klar ist: Irgendwo hat es einen schweren Unfall gegeben. Aber wo? Erst am Abend des dritten Tages informiert Moskau die Welt.

Eine Woche nach der Explosion: Die Einwohner der Stadt Tschernobyl und der umliegenden Ortschaften werden evakuiert: 130.000 Menschen. Das Gebiet im Umkreis von 30 Kilometern um das Kernkraftwerk wird zur Sperrzone erklärt. Doch die radioaktive Verseuchung ist nicht auf diese Zone beschränkt. Mittlerweile zieht die radioaktive Wolke über Westeuropa und regnet radioaktives Cäsium und Jod ab.
Deutschland, Frankreich, Norditalien – überall werden Felder, Weiden, Tiere und Menschen kontaminiert. Die Wolke dehnt sich weiter aus, erreicht Großbritannien und Griechenland.

In den nächsten Monaten schickt Moskau Hunderttausende zum Reaktor, um hochverstrahlten Bauschutt zu entfernen und eine Hülle um den zerstörten Block zu bauen. Sieben Monate nach der Explosion ist er dicht. Von dieser Katastrophe wird sich das Land trotzdem nicht mehr erholen.

Autor: Thomas Johnson (SWR)

Stand: 20.11.2014 11:13 Uhr

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