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Flohkrebse im Polarmeer

Der Untereisamphipode
Flohkrebs mit hochgeklappten Beinen - der Untereisamphipode | Bild: Florian Breier

Eisbären, Robben und Walrösser - die großen Tiere der Arktis sind den meisten Menschen bekannt. Doch auch mitten im Eis wimmelt es von Leben: Algen, Rädertierchen, Strudelwürmer und Ruderfußkrebse besiedeln Gänge und Kammern voll hochkonzentrierter Salzlösung, von denen das Meereis durchzogen ist. Diese Solekanäle bilden sich, wenn das Salzwasser gefriert, denn Salz kann nicht in die Eiskristalle eingebaut werden.

Um diesen Mikrokosmos besser zu verstehen, führen Biologen in den Sommermonaten mit Forschungseisbrechern wie der deutschen Polarsten Expeditionen in den Arktischen Ozean durch. Die Forscher nehmen großräumig Proben des Meereises und bestimmen später die winzigen Organismen unter dem Mikroskop. Es zeigt sich: Diese Tiere sind wahre Überlebenskünstler! Sie haben sich an einen der extremsten Lebensräume des Planeten angepasst, bestimmt von hohen Salzkonzentrationen, großer Kälte und langen Phasen vollständiger Dunkelheit. Ohne die Mikrotierwelt im Eis wäre das arktische Ökosystem nicht denkbar.

Ein fast unerforschter Mikrokosmos

Arbeit auf dem Meereis im Arktischen Ozean
Extremer Arbeitsplatz – das Meereis im Arktischen Ozean | Bild: WDR

Nur langsam beginnen die Experten zu verstehen, welche Tierarten im scheinbar lebensfeindlichen Meereis existieren können und wie sie sich ernähren. Grundlage dieser winzigen Lebensgemeinschaft sind Eisalgen. Sie färben das Eis oft grünlich oder braun. Von ihnen ernähren sich Rädertierchen, Wimpertierchen und kleine Würmer. Andere Arten wie die Ruderfußkrebse fressen sowohl Algen als auch kleinere Tiere.

Auf einer höheren Stufe stehen größere Tiere wie der Untereisamphipode, ein garnelenartiger Flohkrebs, der sich mit seinen nach oben geklappten Beinen an der Unterseite des Eises festhält und ein Allesfresser ist. Amphipoden wiederum dienen Fischen als Nahrung. Und die sind die Lieblingsbeute von Robben. Erst an der Spitze des Nahrungsnetzes steht der Eisbär.

Der unbekannte Weg ins Eis

Der Forschungseisbrecher Polarstern
Transportmittel Eisbrecher – die Polarstern | Bild: WDR

Doch viele Fragen sind immer noch offen. So ist längst nicht bei allen Tierarten geklärt, ob sie aktiv aus dem Meerwasser in die Solekanäle des Eises wandern oder beim Gefrieren des Meerwassers im Eis eingeschlossen werden. Weil Expeditionen ins Nordpolarmeer fast nie im Winter stattfinden, gibt es auch kaum Erkenntnisse darüber, wie sie extreme Kälte und ständige Dunkelheit in den Wintermonaten überstehen.

Nur durch ein besseres Verständnis dieser Tierwelt wäre es möglich, die Auswirkungen des Klimawandels auf das gesamte Ökosystem Nordpolarmeer vorauszusagen. Doch im Zuge der globalen Erwärmung entwickelt sich die Arbeit der Forscher immer mehr zum Wettlauf gegen die Zeit.

Defekte Kühlung

Schmelwasserztümpel auf dem Meereis
Der Klimawandel lässt das Meereis schmelzen. | Bild: Florian Breier

Das Nordpolarmeer und die umliegenden arktischen Landmassen sind ein Hot Spot des Klimawandels. Laut IPCC-Bericht, der Analyse des Weltklimarates, ist die durchschnittliche Temperatur in der Arktis in den vergangenen Jahrzehnten doppelt so stark gestiegen wie in der übrigen Welt, in der Hocharktis sogar um das Dreifache.

Bislang funktioniert der zugefrorene Arktische Ozean wie ein riesiger Spiegel und reflektiert bis zu 90 Prozent des auftreffenden Sonnenlichts zurück in den Weltraum. Doch sobald das Eis taut, bekommt dieser Spiegel Risse und sein Rückstrahlverhalten ändert sich grundlegend, denn Wasser absorbiert im Gegensatz zu Eis bis zu 80 Prozent der Strahlungswärme. Die Folge: Mehr Wärme gelangt in den Ozean und damit ins Klimasystem. Die Arktis kann ihre Funktion als Kühlmechanismus der Erde nur noch eingeschränkt erfüllen.

Dieser Prozess ist ein Teufelskreis. Hat das Tauen erst einmal begonnen, vergrößern sich Schmelztümpel auf dem Eis sowie offene Wasserflächen zwischen den Schollen unaufhaltsam - und speichern Wärme. Die Folge ist, dass sich im darauf folgenden Winter neues Eis erst später bilden kann, weil der Ozean die gespeicherte Wärme zuerst wieder abgeben muss. So verkürzt sich von Jahr zu Jahr die Gefrierperiode. Die Eisdecke wird immer dünner und damit der Lebensraum für die Tiere im Eis kleiner.

So wenig Eis wie nie

Mikroskopaufnahme eines Ruderfußkrebses aus dem Eis
Ein Ruderfußkrebs aus dem Eis unter dem Mikroskop | Bild: WDR

Messungen von Polarstern-Expeditionen belegen diesen Trend. An vielen Stellen misst die Eisdecke im Sommer nur noch rund einen Meter und ist vermutlich erst im vorangegangenen Winter entstanden. Mehrere Meter dickes Eis, das über Jahre hinweg gewachsen ist, wird zur Seltenheit. Beim Rekordminimum im Sommer 2007 schrumpfte die Eisfläche im Nordpolarmeer auf rund 4,3 Millionen Quadratkilometer. Seither hat sich dieser Trend fortgesetzt. Auch 2011 war die Eisbedeckung wieder ähnlich gering wie im Rekordjahr. Viele Polarforscher gehen deshalb heute davon aus, dass der Arktische Ozean bis spätestens Mitte dieses Jahrhunderts im Sommer eisfrei sein könnte.

Für die Tierwelt könnten die Folgen verheerend sein. Denn mit den winzigen Organismen im Eis wird voraussichtlich auch die Nahrungsgrundlage der größeren Tiere verschwinden. Für die Meereisbiologen bedeutet dies, dass sie vielleicht nur noch das Verschwinden eines faszinierenden Mikrokosmos dokumentieren können.

Autor: Florian Breier (WDR)

Stand: 12.08.2015 13:45 Uhr

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