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Rätsel um Radioaktivität

Berechnung der Katastrophe

Andreas Stohl am Schreibtisch
Andreas Stohls Modellrechnungen sind geeignet für Asche-, aber auch für radioaktive Wolken. | Bild: WDR

Was ist in Fukushima tatsächlich passiert? Wie viel radioaktives Material ist ausgetreten? Stimmen die offiziellen Angaben? Das fragen sich nicht nur die Menschen in Japan. Dem Meteorologen Andreas Stohl ist eine außergewöhnliche Rekonstruktion des Unglücks gelungen. "Ich war zuerst genau so schockiert, wie alle anderen auch," berichtet Andreas Stohl über den Tag des Unglücks von Fukushima. "Aber mit dem Unterschied, dass wir etwas tun konnten." Er und seine Kollegen vom Norwegisches Institut für Luftforschung sind Spezialisten für 'globale Transportphänomene'. Schon bei den Vulkanausbrüchen auf Island hatte sich seine Forschungsgruppe einen Namen gemacht. Egal ob normale Asche- oder radioaktive Wolken, die Forscher können deren Menge und Verteilung mit Hilfe ihrer Rechenmodelle bestimmen.

In den Tagen nach der ersten Explosion in Fukushima bot Andreas Stohl erste Vorhersagen über die Verteilung der radioaktiven Wolken auf der Basis von Wetterdaten an. Vor allem aus Japan war das Interesse so groß, dass die Server am Institut zusammenbrachen. "Das große Interesse hat dann bewirkt, dass wir gesagt haben: Da könnten wir eigentlich auch noch mehr tun, abgesehen von den Vorhersagen", erinnert sich Andreas Stohl.

Ein weltweites Überwachungs-Netz

Globus-Karte
Die 80 Radionuklid-Mess-Stationen der CTBTO sind über den ganzen Erdball verteilt. | Bild: WDR

Durch die Auswertung sehr vieler Daten kann Stohl im Nachhinein die Menge und den Verlauf der radioaktiven Emissionen wesentlich genauer bestimmen als bei den Vorhersagen während der hektischen Unglückstage.

Das Netzwerk der unabhängigen internationalen Organisation CTBTO (Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization), die hilft, geheime Atomwaffentests aufzuspüren, sammelt diese weltweiten Daten. 80 Radionuklid-Messstationen rund um den Globus messen zum Beispiel Caesium-137, ein Element, das nicht nur bei einem Atomwaffentest freigesetzt wird, sondern auch nach Fukushima oder Tschernobyl das Hauptproblem ist. Denn es hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren und bleibt deshalb extrem lange für den Menschen gefährlich.

Die weltweiten Daten der Messstationen laufen in der CTBTO-Zentrale in Wien zusammen - auch die Daten vom März 2011. Sie sind zwar nicht öffentlich zugänglich, aber Andreas Stohl hat gute Kontakte und kann als erster auf sie zugreifen.

Unabhängige Ergebnisse

Karte
Die Berechnung von Andreas Stohl: Radioaktive Wolke über Japan am 15. März. | Bild: WDR

Jetzt kann er die Auswirkungen des Nuklear-Unfalls genau nachvollziehen. Seine Analyse ist deshalb besonders wertvoll, weil sie auf Daten beruht, die unabhängig von den japanischen Messungen sind, denen viele Menschen nicht mehr vertrauen.

Andreas Stohls Rekonstruktion der Unglückstage:

  • An den ersten drei Tagen trieb der Wind in Fukushima die radioaktive Wolke tatsächlich auf den Pazifik hinaus. Nur die direkten Anwohner waren in dieser Phase bedroht. Die übrige Bevölkerung wurde trotzdem in Sicherheit gebracht. Bei ihnen blieb die radioaktive Belastung aber gering.
  • Doch schon bald weitete sich die Gefahr aus. Am Tag 4 nach dem Beben zog ein Zyklon auf und der Wind drehte zum japanischen Festland. Und ausgerechnet in diesem Moment traten die größten Mengen an Radioaktivität aus. Sogar an einigen Stellen außerhalb der Sperrzone wurden ländliche Gebiete für Jahre unbewohnbar!
  • Nach dem vierten Tag zogen die radioaktiven Wolken zum Glück wieder über den Pazifik.
  • Aber am Tag 9 drehte der Wind erneut. Die Wolken bedrohten jetzt auch den Großraum Tokio - mit 35 Millionen Menschen. Glücklicherweise fiel auf Tokio kein Niederschlag. Aber die radioaktiven Wolken regneten an anderen Orten in Japan ab, drei Tage lang.

Bilanz der radioaktiven Belastung

Karten mit Prozentangaben
Der größte Teil des radioaktiven Niederschlags traf den Pazifik, gefolgt vom japanischen Festland und den übrigen Kontinenten. | Bild: WDR

Dank Andreas Stohls Berechnungen lässt sich das Unglück jetzt auch im Vergleich mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl einordnen: In Fukushima ist knapp halb so viel Caesium-137 ausgetreten wie 25 Jahre zuvor in der Sowjetunion. Die Berechnungen stießen in Japan auf großes Interesse, berichtet der Wissenschaftler: "Das Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber Tepco und den Behörden in Japan ist mittlerweile relativ groß. Und dadurch, dass unsere Abschätzungen nicht extrem viel höher liegen als die japanischen, kann das vielleicht zur Beruhigung der Menschen in Japan beitragen."

Insgesamt sind 36 PBq radioaktives Caesium-137 ausgetreten. Das sind 42 Prozent der Menge von Tschernobyl. 79 Prozent des Caesiums sind ins Meer gelangt und dort - stark verdünnt - relativ unschädlich. 19 Prozent trafen Japan. Auf die anderen Kontinente verteilten sich nur zwei Prozent, vor allem auf Amerika, hier jedoch ohne nachweisbare Folgen. Und auch in Japan, das lehrt die Diskussion um die Folgen des Unglücks von Tschernobyl, wird es aller Voraussicht nach nicht möglich sein, die gesundheitlichen Folgen des Unglücks genau zu ermitteln.

Autor: Reinhart Brüning (WDR)

Stand: 13.11.2015 14:23 Uhr

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